Darüber lesen und selbst sehen
(Bützow, Güstrow, Krakow, Malchow)
Der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts reist gerne mit "Nawwi"; zumindest wenn er sich ins Auto setzt, um sein Wunschziel zu erreichen. Abgesehen davon, dass ich Navigatoren (in Autos) grundsätzlich für überflüssig halte, empfinde ich die Verwendung dieser Technik bei meinen Zeitreisen als störend. Während der Vorbereitungen sichte ich Karten; und verlasse mich auf die Ausschilderungen in dem jeweiligen Ort. Jüdische Friedhöfe sind ohnehin in keinem "Nawwi" verzeichnet ...
Wieder einmal krame ich das Buch "Was blieb - Jüdische Spuren in Mecklenburg" von Borchert und Klose hervor. Daneben liegt eine Karte von Mecklenburg. Ziel ist es, vorhandene jüdische Friedhöfe herauszusuchen, die nicht zu weit voneinander entfernt sind. Auch ein paar Informationen aus dem Internet helfen bei der Reisevorbereitung.
Am vorletzten Tag im März 2014 mache ich mich auf den Weg zu drei Guten Orten in Mecklenburg: Bützow, Güstrow und Malchow. Denn das eine ist es, darüber zu lesen; das andere, es selbst zu sehen.
Bützow liegt nur etwa zwanzig Minuten von meinem Zuhause entfernt. Ein Stück Autobahn und dann durchs Mecklenburger Land. Als erstes begrüßt den Reisenden, aus Richtung Kröpelin kommend, eine hohe Betonmauer an der Straße entlang: die JVA Bützow. Die Betonmauer sieht relativ neu aus; ältere, sichtbare Backsteingebäude deuten auf einen langen Gebrauch als Haftanstalt hin. Nur ein wenig weiter stadteinwärts, in der Straße "Vor dem Rostocker Tor", auf der rechten Seite - der städtische Friedhof. Hier befindet sich auch der noch vorhandene Rest des jüdischen Friedhofes.
Den Hauptweg des städtischen Friedhofes gehend, schaue ich mich ein wenig um. Regel Nummer eins: Suche erst selbst, bevor du einen Einheimischen fragst. Es ist Sonntag, herrliches Frühlingswetter; die Vögel zwitschern. Hier und da erblicke ich Besucher, die die Gräber ihrer Familie pflegen, Blumen gießen, Unkraut zupfen. Einen dieser Besucher frage ich dann nach dem jüdischen Friedhof. Er erklärt mir, dass ich zum Haupteingang zurück müsse, um dann vom zweiten Eingang gleich rechts herum den Weg entlang müsse. Er sagt: " Da stehen alte Steine. Das soll der jüdische Friedhof sein." Also zurück auf Start! Wie mir der Mann erklärte, laufe ich ein kleines Stück einen unbefestigten, grasbewachsenen Weg entlang. Von weitem sehe ich die "alten Steine"; aber auch einen Maschendrahtzaun drum herum. Ich gehe zurück, weil ich denke, der Mann meine einen anderen zweiten Eingang. Denn der Haupteingang und besagter zweiter Eingang liegen unmittelbar nebeneinander. Nun laufe ich außen am Friedhof lang; aber es kommt kein weiterer Eingang, als ich bereits auf Höhe der "alten Steine" bin. Also zurück auf Start! Wieder durch den Haupteingang gehend, folge ich dem ersten linken Pfad bis zum Ende. Dann stehe ich vor dem Maschendrahtzaun und vor einer mit einem Schloss gesicherten Tür. Der Friedhof ist nicht groß und ich kann auch die hinteren Reihen sehen. Links im Zaun, neben einem Baum entdecke ich, dass dieser defekt ist. Groß genug, um hindurch zu krabbeln. Dann bin ich auf dem Gelände und kann die Gräber und Details genauer betrachten. Das jetzige Areal ist kleiner als das ursprünglich im 18. Jahrhundert gepachtete Grundstück der jüdischen Gemeinde. Die Gründung und Erweiterung bis ins 19. Jahrhundert hinein, die Verwüstungen 1938 und die Schändung 2002, die Verkleinerung der Fläche 1955 und die Rekonstruktion 1988 sind in Büchern und im Internet gut dokumentiert. Unnötig, es hier noch einmal aufzuzählen. Interessanter scheint mir mein persönlicher Eindruck.
Die Anlage ist in einem gepflegten Zustand. Zwischen mehreren Reihen wurden Gehwege aus kleinen Pflastersteinen gelegt. Die Gräber selbst stehen auf der Grasnarbe. Auf dem Areal des Friedhofes stehen keine Bäume, nur ein paar Sträucher; aber der Friedhof wird von Bäumen eingesäumt. Offensichtlich wurde bei der Rekonstruktion des Friedhofes darauf geachtet, die für jüdische Friedhöfe nötige Atmosphäre wieder herzustellen. Die Steine stehen in mehreren gleichmäßigen Reihen; die etwa gleich hohen Gräber sind ostwärts gerichtet und mit der hebräischen Inschrift den Toten zugewandt. Damit folgten die Rekonstrukteure des Friedhofes der für das 18. und 19. Jahrhundert typischen traditionellen Anordnung. Diese resultierte aus dem Ideal der Schlichtheit und Gleichheit aller im Tode.
Die meisten Gräber entsprechen in Form, Material und Größe diesem Ideal; es sind schmale Grabplatten aus hellem Sandstein und schlicht gehalten. Die vorhandenen Gräber zeigen jedoch auch den Prozess der zunehmenden Assimilierung der Juden im ausgehenden 19. Jahrhundert. Auf eine damit einhergehende Veränderung der Grabkunst weisen die in deutsch verfassten Inschriften auf den Vorderseiten hin. Die Rückseiten der Steine sind traditionell in hebräisch gefasst. Der hebräische Text beginnt einheitlich mit zwei Zeichen (פ"נ) der typischen Einleitungsformel "פה נקבר ", was in etwa "Hier ist verborgen" lautet. Auch die vorhandenen Symbole und die verwendete Ornamentik zeigen einen Übergang in der Grabkunst. Wurden bis ins 19. Jahrhundert überwiegend religiöse Symbole verwendet, kamen im 19. und 20. Jahrhundert auch weltliche Symbole hinzu. So sind auf mindestens vier Steinen vor dem Einleitungstext die segnenden Priesterhände zu sehen. Da der jüdische Glauben die Abbildungen von Menschen nicht erlaubt, werden diese Hände "falsch" dargestellt. Das Priestergeschlecht der Kohanim brachte im Tempel das Opfer dar und sprach den Segen über das Volk. Auf mindestens einem Grabstein sind zwei gekreuzte Palmwedel zu sehen, die bereits im frühen Christentum zum Symbol für den Sieg des Glaubens über den Tod geworden sind und für die Unsterblichkeit stehen. Einige Grabplatten enden in einer schwungvollen Form und wurden teilweise mit pflanzlichen Symbolen bzw. Ornamenten verziert. Zwei Gräber fallen durch ihre andersartig gewählte Form und eine gewisse Pompösität ins Auge. Sie stehen beide nebeneinander. Das eine Grab hat die Gestalt eines rechteckigen Blockes und steht auf einem Sockel. Auf der Vorderseite scheint sich eine eingelassene Tafel befunden zu haben, die Rückseite ist in hebräisch gut sichtbar. Der obere Teil des Grabsteines ist mit Ornamenten reich verziert. Alle vier Seiten sind verbunden durch Kränze, die kunstvoll mit Blüten zusammengesetzt und umschlungen sind. Sie sind ein Symbol für die Auferstehungshoffnung. Das zweite aus dem Gesamtbild fallende Grab steht ebenfalls auf einem Sockel und hat die Form einer Säule. Dieses Grab der Amalie Liepmann scheint aus Marmor zu sein, ein im späten 19. Jahrhundert für Grabsteine verwendetes Material. Am oberen Ende läuft um die Säule eine schmückende Banderole, einem Kranz nachempfunden. Beide Gräber sind beredtes Beispiel für die beginnende Auflösung des Prinzips nach Gleichheit und Schlichtheit, denn an der Größe und Gestaltung der Steine sollte nunmehr der im Leben erworbene Reichtum und Erfolg abzulesen sein. Abschließend sind zwei kleine Details erwähnenswert. Auf einem der Grabsteine liegt ein kleiner Stein, der offensichtlich von einem Besucher dort abgelegt worden ist. Das geht auf eine alte Tradition zurück, als die Israeliten noch Nomaden waren und durch die Ablage von Steinen die Toten vor Tieren schützen wollten. Das andere Detail: Eine Reihe von Grabsteinen entsprechen in Form, Material und Gestalt dem ursprünglichen Prinzip der Schlichtheit. Inschriften und eventuelle Symbole sind nicht mehr erkennbar. Die sichtbaren Beschädigungen sind entweder mutwillig oder durch unsachgemäße Handhabung entstanden. So sind gerade diese Steine Zeugnis der wechselvollen Geschichte des Friedhofes.