Die Fischreiher




Belletristik und Lyrik aller Art

Die Fischreiher

Beitragvon jupp » Fr 22. Nov 2013, 15:03

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DIE FISCHREIHER


In einer von fischreichen Gewässern gesegneten Großkolonie in einem fruchtbaren Land der grenzenlosen Freiheit lebten die dort siedelnden Fischreiher in Saus und Braus. Sie räuberten die Gewässer aus, fraßen sich dick und fett, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass ihre Quellen eines Tages versiegen könnten.

Eines Tages hockte der Ältestenrat der Großkolonie beim wöchentlichen Palaver im Wipfel einer uralten Weide.
„Männer“, tönte mit geschwellter Brust Dabbeljuh, der Stammesälteste der Großkolonie mit entschlossener Stimme, „bei meinen Erkundungsflügen habe ich fremde Territorien entdeckt, deren ausgedehnte Gewässer von schmackhaften Fischen nur so wimmeln. Wir Guten müssen zum Krieg rüsten, um die Bösen, die die fremden Kolonien beherrschen, zu killen und deren Schätze an uns reißen!“ Die Augen des Ältestenrates entflammten vor gieriger Jagdlust.
„Großer Dabbeljuh“, wagte als Einziger Martin, der Jüngste in der Runde, zu bedenken, „wozu Krieg? Ich habe einen Traum! Alle Fischreiher könnten friedlich in ihren Revieren leben und mit ihren Nachbarn in Freundschaft verbunden sein. Wir haben doch in unseren reichen Fischgründen reichlich zum Fressen. Warum Krieg den fremden Revieren?“
„Jugendliche Torheit!“, brüllte Dabbeljuh wie aus der Pistole geschossen, und breitete seine mächtigen Schwingen furchterregend aus, „Weicheigejammere! Der nächste Krieg muss sein. Wir Mächtigen sind unersättlich! Wir kriegen den Hals nie voll genug!“ Da reckte der Ältestenrat – mit Ausnahme von Martin – seine breiten Flügel in den Himmel und zeigte der Welt seine scharfen Krallen.
„Und außerdem“, bestärkte Rummser, der Zweite in der Hierarchie der Kolonie den Dabbeljuh, „junger Freund, denke daran, eines Tages könnten unsere Gewässer vielleicht versiegen. Wir müssen den Krieg führen, um den Reichtum unserer Großkolonie auf alle Zeiten zu sichern! Folgen wir dem leuchtenden Beispiel unserer Vorväter. Go West! Mache alle nieder, die sich dir in den Weg stellen! Stecke deinen Claim ab, du hast das Recht auf Glück und Reichtum!“

Es geschah wie von dem Ältestenrat beschlossen. Die Fischreiher fielen in großen Schwärmen in fremde Kolonien ein, eroberten sie, und raubten sie gnadenlos aus.
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
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