Katastrophe




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Katastrophe

Beitragvon jupp » Sa 21. Feb 2015, 11:35

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EINE VÖLLIG NATÜRLICHE KATASTROPHE

Die Schärfe und Tiefe des analytischen Verstandes des Berichterstatters sind legendär. An ihm wird gerühmt – ein Bei-spiel nur von unendlich vielen -, dass er auch noch zu später Stunde treffsicher einen trockenen Gutedel von einer Apfel-saftschorle zu unterscheiden weiß. Das ist doch schon mal was. Von diesem klaren, von keinem Wässerchen getrübten Blick zeugen auch die Betrachtungen zum Phänomen „Verwandtschaft“, die hier erstmals veröffentlicht werden.

 Es gibt in der Natur unvermeidbare Katastrophen. Halt einfach so, von Natur aus. Was nicht schön ist, aber so ist. Katastrophen, gegen die man sich nicht versichern kann, weder gegen ihren Eintritt, noch gegen deren Folgen. Ein Beispiel dafür sind die Verwerfungen und Brüche, die die Verschiebungen der eurasischen Erdplatte hervorrufen. Ein anderes Beispiel ist die uns von der Natur bescherte Verwandtschaft.
 Mit der allgemeinen Natur, in die wir hineingeboren werden, hat der Sonderfall der Verwandtschaft gemeinsam, dass beide natürlich sind, da wir auch in letztere hineingeboren werden. Zudem ist ihnen gemeinsam, dass sie immer wieder Katastrophen auslösen und von ihnen heimgesucht werden. Insofern darf es niemanden verwundern, denn es ist logisch zwingend, dass auch Verwandtschaften natürliche Katastrophen sind. Die Natur und ihre Gesetze sind einfach unerbittlich und nicht wegzudiskutieren. Was nicht schön ist, aber so ist.
 Wie bei der eurasischen Erdplatte und den Vulkanen dauert es manchmal eine Zeit, bis die katastrophale Beschaffenheit der Verwandtschaft offen zutage tritt. Ist beispielsweise in einer Verwandtschaft eine Zeit lang Ruhe, aber vermehrt sich dann diese Verwandtschaft durch eine Heirat um eine angeheiratete Verwandtschaft, schon ist es aus mit der Ruhe, ist die Katastrophe da. Das gilt vor allem in drei Fällen: a) wenn ein Kind als Folge von natürlichen Liebesbewegungen (die nicht katastrophal sein müssen) entsteht, bevor die Liebschaft in eine „Bauchehe“ über-geht, und dann als „heilige“ und gesegnete durch einen Eintrag in das kirchliche Kataster gesegnet ist; b) wenn die Bewegungen, die zur Zeugung führen, un-ter Einsatz von Personen erfolgen, die in den Katastern unterschiedlicher Kirchen eingetragen sind, wobei der Fall a) katastrophenverstärkend hinzukommen kann; c) wenn die angeheiratete Verwandtschaft nach der bewährten abendländischen Tradition überhaupt nicht an“geheiratet“ ist, sondern zwei Verwandtschaften einfach unverbunden einfach neben-einander existieren. Mit juristischen Wort-klaubereien, es handele sich bei dieser Fallgestaltung um keine Verwandtschaft de jure, nicht um eine wirklich echte Verwandtschaft, lässt sich die Katastrophe dieser Fallgestaltung nicht wegdefinieren. Man kann zwar einen schmerzhaften Rosenkranz beten, aber das schafft die Sache auch nicht aus der Welt, denn die Tektonik, die Brüche und Verwerfungen geschehen de facto auch zwischen Verwandten, die de jure keine sind. Was durch ein gesetzliches Verbot nicht aus der Welt zu schaffen ist.
Naturgeschehen dominiert in diesem Falle das Positive Recht. Das ist nicht schön, aber so ist es.
 Bei Schwulen und Lesben entfallen natürlicherweise die Katastrophenfälle a) und b), während im Falle c) beide unverbunden nebeneinander existierende Verwandtschaften natürlich die erwähnte Befindlichkeit und den damit natürlicherweise einhergehenden Schweinekram als Katastrophe ansehen. Es gibt halt immer noch Menschen, die die Brüche und Verwerfungen der eurasischen Erdplatte nicht als natürliche Gegebenheit anerkennen wollen. Wie wusste schon der römische Philosoph Epiktet: „nicht die Dinge beunruhigen uns, sondern unsere Vorstellung von den Dingen“. Viele Katastrophen gibt es in Wirklichkeit gar nicht, sondern nur im Kopf derjenigen, die sich den Schweinekram ausmalen, bevor sie ihre Vorstellungen beichten gehen. Ein einzig-artiges Vermögen, das nur der Mensch, die Krone der Schöpfung, besitzt: „wenn man kein Problem hat, kann man eines daraus machen“.
 Ist eine Verwandtschaft sehr klein, gerät ein sogenanntes Verwandtschaftstreffen zwingend zum Desaster. Man hechelt die Verwandtschaft durch, doch weil sie so klein ist, geht schon nach einem Kännchen Kaffee der Gesprächsstoff aus. Die Menge der möglichen Brüche und Verwerfungen, wer welchen Verwandten aus welchen Gründen derzeit für einen Idioten hält, ist bei dieser Fallgestaltung natürlich sehr begrenzt, weil eben die ganze Verwandtschaft beschränkt ist und nur als mit einem sehr übersichtlichen Verstandesvermögen ausgestattet charakterisiert werden kann. Mehr gibt halt eine kleine Verwandtschaft nicht her. Ob das schön ist, weiß ich nicht, aber so ist es.
 Selbstverständlich ist auch eine große Verwandtschaft eine Katastrophe. Man hechelt und hechelt (vor allem die nicht anwesenden Mitglieder der Verwandtschaft) durch, doch kriegt man bei einem einzigen Treffen die ganze Verwandtschaft – weil sie halt so groß ist – nicht durch. Die Verschiebungen und Brüche der eurasischen Erdplatte lassen sich ja auch nicht an einem Tag bewältigen. Und ein zweites Verwandtschaftstreffen wäre zwar keine Katastrophe, sondern eine Folgekatastrophe. Wenn man es genau nimmt. Auch Folgekatastrophen sind katastrophal. Außerdem zahlt auch für diese weder für deren Eintritt noch deren Folgen eine Versicherung.
 Einem zwingenden, biologisch determinierten Naturgesetz gemäß kommt es in der Verwandtschaft von Zeit zu Zeit zu einer Katastrophe, bei der sich die Anzahl der Verwandten um mindestens eine Person verringert. Was nicht schön ist, aber so ist. Dieser Vorgang ist von Natur aus auch deshalb eine Katastrophe, weil es bei ihm natürlicherweise zu einer Erbschaftsangelegenheit kommt. Auch dagegen kann man sich nicht versichern, weil man weder
a) den Eintritt eines solchen Falles, noch
b) die natürlicherweise daraus folgenden Erbstreitigkeiten
vermeiden kann. Versicherungen gibt es nur gegen Risiken, nicht gegen Gewissheiten.
 Immerhin hat dieser Katastrophenfall auch einen großen Vorteil: wenn die Kinder der Person, die den Umfang der Verwandtschaft um die Zahl 1 verringert hat, über nichts zu streiten hätten, was wollten sie dann den Enkeln vererben? Dieser Katastrophenfall und sein erwähnter Vorteil haben zwar im Prinzip bei kleinen und großen Verwandtschaften die gleiche Struktur, weil nicht die zahlenmäßige Begrenzung, sondern die grenzenlose Beschränktheit ungehemmt zum Ausbruch kommen. Aber hinsichtlich der Folgewirkungen wirkt sich das vierte Gesetz der thermodynamischen Entropie aus. Je mehr Beteiligte es am natürlichen Streit um die Verteilung der Überbleibsel gibt, desto kleiner ist die Menge der Überreste, die einem Beteiligten zukommen können, also wächst die Anzahl und Intensität der Streitigkeiten um die Überbleibsel proportional zur Anzahl der Hinterbliebenen. Zumal sich zwischen Erbfall und Verteilung der Überreste ein natürlicher Schwund der Überbleibsel einstellt, der in voraussehender Weitsicht des bald eintretenden Erbfalles auch vor dem Todesfall bewirkt werden kann. Rechtsanwälte sind deshalb entschiedene Befürworter von großen Verwandtschaften.
 Schon in dieser kursorischen Übersicht ist angedeutet, dass die Chaostheorie am Beispiel der Verwandtschaft ihre nachdrücklichste Bestätigung gefunden hat. Das Chaos, das beispielsweise die tektonische Verschiebung der eurasischen Erdplatte auszulösen vermag ist doch ein Pappenstiel, eine harmlose Laune der Natur, gegenüber jenen Wirrnissen, die die genetisch bedingten Defekte in einer Erbengemeinschaft ans Tageslicht bringt, die eine Sippe befähigen, sich in Giftspritzen zu verwandeln, die pathologisch-paranoide Scheiße absondern, und sie so in den kollektiven Wahnsinn treibt.
 Selbstverständlich müssen wir diese generelle These einer differenzierten Betrachtung unterziehen. Was jetzt sofort geschehen soll, indem wir an die zuvor erörterte Unterscheidung zwischen großen und kleinen Sippschaften in Verwandtschaften anknüpfen.
 Ist bei einem Erbschaftsfall der Umfang der Hinterlassenschaft groß und die Zahl der Hinterbliebenen klein, muss es natürlich zu einem katastrophalen Streit kommen, da es um etwas geht. Ist bei einem Erbschaftsfall der Umfang der Hinterlassenschaft sehr klein, aber die Zahl der Hinterbliebenen groß, so muss es zwangsläufig erst recht zu Streitigkeiten kommen, weil es um nichts geht. Je größer die Zahl der Pfeifen, desto mehr laute Töne kann eine Orgel von sich geben. Wozu hat man denn sonst die Beiträge in eine Rechtsschutzversicherung eingezahlt? Klar, damit man allen zeigen kann, dass man recht hat. Auch wenn man nichts davon hat.
 Gerade bei dieser Fallgestaltung zeigt sich der große Vorteil einer Verbindung von einer kleinen Hinterlassenschaft mit einer großen Zahl von Hinterbliebenen. Je größer die Zahl der Trauernden ist, desto größer ist die Zahl der Streithähne, die nichts zu erwarten haben.
Bei einer recht großen Zahl von Zurückgebliebenen eröffnet sich sogar die Möglichkeit der Bildung von Koalitionen, zum Beispiel derjenigen, die bereits wissen, was ein ICE ist einerseits, und derjenigen andererseits, die Denken in mehr als einer Stufe für einen nicht erreichbaren Luxus halten, was man ihnen allerdings nicht verdenken sollte, jeder von uns hat doch einmal klein angefangen, und manche von uns sind halt dabei geblieben. Diese Koalitionen neigen natürlich dazu, zu Cliquen zu degenerieren, welche sich sogar mafioser Techniken bedienen. Man muss ihnen aber zugestehen, dass sie sich immerhin an die Regeln aufgeklärter Gesellschaften halten, dass das Einbetonieren der Gegenclique in leere Ölfässer heutzutage out ist, und nur in den Köpfen der Betonköpfe vorkommen darf. Was das katastrophale Chaos nicht verhindert, sondern verstärkt. Nix mehr mit dem einfachen Ruck-Zuck-Kopf-weg. Auch die Kopflosen müssen geachtet werden, denn sie sind wirklich nicht behindert, sondern sind Menschen wie Du und ich, wenn auch mit andersartigen Begabungen. Was nicht schön ist, aber so ist.
 Eine Betrachtung des Katastrophenphänomens „Verwandtschaft“ führt uns zur ultimativen Dechiffrierung des lange Zeit rätselhaft gebliebenen Mythos vom Sisyphus. Der wollte bekanntlich einen ganz schweren Stein auf einen hohen Berg wälzen und auf dessen Spitze zur Ruhe bringen. Was ihm aber nicht gelang, weil der garstige Felsbrocken immer wieder den steilen Hang hinunter auf die Siedlungen der Menschen zurollte, und dort für erhebliche Unruhe sorgte. Niemand wird mit einem ernsthaften Argument bestreiten können, wenn es uns nach der vorangegangenen Analyse wie Schuppen von den Augen fällt, dass die Verwandtschaft einem schweren Stein am Hals und einem garstigen Felsbrocken gleichzusetzen ist. Womit sich der Mythos vom Sisyphos schlagartig enträtselt.
a) Es wird nie gelingen, die Verwandtschaft zur Ruhe zu bringen. Wir müssen mit Katastrophen leben.
b) Ohne Verwandtschaft gäbe es mich nicht. Wir müssen mit von Katastrophen ausgelösten Folgekatastrophen leben.
 Albert Camus hat schon recht: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“.


Herzliche Grüße
Jupp
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