In dubio




Belletristik und Lyrik aller Art

In dubio

Beitragvon gnies.retniw » Mi 20. Dez 2017, 10:28

In dubio

Ich sitze. Ich sitze an meinem Schreibtisch. Es dämmert, die Nadel zerkratzt Vinyl. Ich sitze an meinem Schreibtisch, vor mir eine Flasche Whisky. Ich sitze an meinem Schreibtisch, ein Glas, aus dem ich trinke. Whisky. Ich sitze und trinke. An meinem Schreibtisch. Es gibt keinen Grund, das Glas zum Mund zu führen. Grund hat man immer: Eine trockene Kehle; die Unfähigkeit, sich einen Panzer anzulegen. So sitze ich und trinke. Der Whisky zieht langsam in die Blutbahn. Der erste Schluck ist Genuss. Wärme zieht durch den Körper und Leichtigkeit in den Kopf. Ich sitze am Schreibtisch. Ich sitze, vor mir ein Glas Whisky. Er verströmt einen traurigen Duft. Ich schenke mir nach. Mundschenk. Die Flasche ist halbleer, halbvoll. Ich sitze und bin halbvoll, halbleer. Der Raum um mich wird groß, klein, unendlich; die innere Angst wird zur äußeren Realität. Scotti, Jim Beam mich rauf!

Leise rieselt der Schnee. Das Vinyl dreht sich nicht. Die Nadel - beschäftigungslos. Die Geräusche sind verschluckt im Weiß. Nur das Schreien der Nachbarin hallt über den Innenhof. Keiner hört zu. Leise rieselt ... Die Faust des Mannes ist noch geballt ... der Schnee ... Geheiratet wird in Weiß. Unschuldiger Schnee ... Nun bin ich nah genug dran, weit genug weg.

Eine Traurigkeit, die sich aus nichts Fassbarem nährt. Sie sitzt. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Vor sich eine Flasche Whisky. Sie sitzt und trinkt. Grund hat man immer.
"Die Sonne der Kultur steht niedrig. Wen wundert's, dass Zwerge lange Schatten werfen."
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Re: In dubio

Beitragvon jupp » Mi 20. Dez 2017, 19:11

Liebe Signe,

so lustig wie es in der Literatur, vor allem in der Unterhaltungsliteratur oft geschildert wird, scheint das Saufen nicht zu sein, entnehme ich Deiner, mich nachdenklich stimmenden Erzählung. Wenn mal die angeblichen Gründe (Ausreden) beiseite lässt, woran liegt es, dass so viele Menschen abhängig werden? Ohne jede wissenschaftliche Untermauerung vermute ich unverarbeitete (oft unbewusste) Probleme. Weißt Du Genaueres?

Herzliche Grüße
Jupp
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Re: In dubio

Beitragvon gnies.retniw » Mi 20. Dez 2017, 19:24

Lieber Jupp,

lustig ist Sucht in der Tat nicht. Sucht entsteht vermutlich aus einem Mix von Genetik und Sozialisierung. Das Gefährliche ist, dass Alkohol in unserer Gesellschaft kulturell legitimiert ist. Obwohl das auch nur die halbe Wahrheit ist. Denn es gibt genügend Menschen, die Alkohol als Genussmittel verwenden, ohne in Missbrauch zu verfallen.

Sucht hat viele Seiten. Aus meiner Sicht ist die Sucht nach Mitteln (Alkohol, Drogen) nur der äußere Rahmen. Sucht sucht sich viele Wege. Man muss als süchtiger Mensch sehr sorgsam mit sich umgehen, wenn man abstinent geworden ist. Das ist eigentlich die größere Herausforderung. Denn durch z.B. klinischen Aufenthalt wird man stofflich entwöhnt. Die eigentliche Arbeit beginnt erst danach ... und das ein Leben lang ...

Na ja ...
Lieben Gruß von Signe
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