Ich habe außer Konkurrenz seit langem wieder mal einen Wortspieltext auf bx geschrieben... Bertg gab das Thema und ich fand es ausgesprochen spannend...
schaut her...
Genug ist (nicht) genug
Rosa hatte sich entschieden. Heute war ein guter Tag zum Sterben.
Doch bevor sie ging, ließ sie ihre Gedanken Revue passieren, dachte an all die verpassten Chancen, die ihrem Leben die Wende zum Guten hätten bringen können, und die sie verstreichen ließ. Ein Windstoß brachte ihre Frisur durcheinander. Frisur dachte sie und lachte. Haare so falsch wie ihr Dasein. Alles nur Theater.
Rosa umklammerte die Lehne ihres Rollstuhls, stemmte ihr Hinterteil so gut es ging nach oben und sank Sekunden später auf die harte Sitzfläche zurück. Sie hätte sich ein Kissen unterlegen solle, doch wofür. Dekubitus war lange genug ein Thema, es langte, Schluss damit.
Sie hatte genug. Nicht mehr und nicht weniger. Einfach genug.
Im letzten Herbst, als die Diagnose kam überlegte sie noch, wie es sein würde, wenn die OP und die nachfolgende Chemo nicht anschlugen. Bei ihrem Glück würde genau das eintreffen und was dann.
Bronchalkarzinom, Metastasen in Lunge, Leber, Hirn.
Meine Güte, das konnte gar nichts mehr werden. Sie wusste es, und doch hatte sie zugestimmt.
Eitel war sie gewesen ein Leben lang. Mit 58 trug sie noch immer Kleidergröße 38 und ihre Füße waren vom Tragen heiß geliebter Pumps nur wenig deformiert. Andere Körperteile waren nicht ganz so gut weggekommen, doch wenn es darauf ankam, hatte sie einfach das Licht gelöscht.
Das war vorbei und wahrlich, sie hatte andere Sorgen. Sie lachte laut auf. Es war ein heißeres, ein krächzendes Lachen. Das Lachen einer Krähe.
Sie erinnerte sich. Ein Nachbar hatte vor langer Zeit eine zahme Krähe in seiner Obhut.
Wenn Rosa im Garten arbeitete, kam Frau Krähe oftmals angeflogen, dich an ihre Kopf vorbei und setzte sich auf den nächsten Ast. Ein schönes Tier, intelligent und spitzbübisch. Seit dieser Begegnung mochte sie Krähen gerne und beobachtete von ihrem Küchenfenster aus, wie sie im Herbst über die abgeernteten Felder herfielen auf der Suche nach Futter.
Nu ja, die Krähe war tot, Haus und Garten hatte sie auch verloren und nun verlor sie ihr Leben.
Rosa nahm ihre Perücke ab und warf sie in hohem Bogen in den See. Langsam löste sie die Bremsen des Rollstuhls. Sie verspürte eine unendliche Kraft in den Händen, die es ihr ermöglichte, den Stuhl immer näher ans Ufer zu schieben.
Ein letztes Mal blickte Rosa gen Himmel, lächelte in die Sonne, blinzelte den Schäfchenwolken zu und murmelte: ist gar nicht so einfach, das Gehen.
© 2014 sissi