Der lange Weg nach Hause




Belletristik und Lyrik aller Art

Der lange Weg nach Hause

Beitragvon gnies.retniw » So 10. Nov 2013, 00:57

Der lange Weg nach Hause

Er kommt auf Erden an - behütet; sein Hut ist zauberhaft und wunderbar. Das merkt er anfangs nicht. Er nimmt ihn als Selbstverständlichkeit. Er gehört zu ihm.

Andere machen ihn auf seinen Hut aufmerksam. Sie sagen: Oh, dieser Hut ist zauberhaft und wunderbar. Sie sagen es ihm zu oft; da fängt er an, den Hut zu hassen. Er wird ihm fremd; er wird sich fremd. Versuche, sich seine Kopfbedeckung vom Kopf zu reißen, scheitern: Der Hut bleibt ihm. Er schaut nicht mehr in den Spiegel. So sieht er den Hut nicht. Er hüllt sich ein in Nebelschwaden, damit auch die Anderen seinen Hut nicht mehr sehen. Doch der Hut bleibt. Die Zeit verrinnt.

Er zieht in die Welt, will alles unter den ungeliebten Hut bringen. Die Welt ist groß, die Welt ist klein. Er trifft welche mit Helmen und die sind Hutmacher besonderer Art. Wie deren Kopfbedeckung, wird sein Hut stählern. Die Welt ist groß - seine passt nun in einen Fingerhut. Kleine Welt, die ihm, dem so Gehärteten, Heimat und Schutz bietet, vor dem Fremden, vor den Anderen. Die Zeit verrinnt.

Mit dem Zauberer, den er trifft, redet er über die Arten von Kopfbedeckungen, auch über den eigenen Hut, den fast vergessenen. Der Zauberer sagt nicht: Dein Hut ist zauberhaft und wunderbar. Er sagt: Behutsamkeit. Dieses Zauberwort nimmt er mit auf seinem weiteren Weg.

Die mit den Ledermützen nennen ihn Bruder. Das Material ihrer Mützen wirkt verführerisch, weich und anschmiegsam. Mit dem übergestülpten Leder auf seinem Kopf reist er von Stadt zu Stadt. Das Leder, von Gurten gehalten, sitzt eng am Kopf und hindert ihn, die große Welt zu begreifen. Die Zeit verrinnt.

Vor langer Zeit trug einen Harnisch. Das aufklappbare Visier seines Helmes war komfortabel genug, um seine kleine Welt zu überschauen und auch, um sich zu schützen. Er zog in Schlachten für seinen König und kämpfte in Turnieren um die Ehre. Nur ein einziges Mal gelang es seinem Gegner, ihn zu verwunden. Es war sein letztes Gefecht. Die Zeit verrann. Als er erneut auf Erden ankommt, ist er behütet; sein Hut ist zauberhaft und wunderbar.

Die Versuche, seinen Hut gegen die Kopfbedeckungen Anderer einzutauschen, scheitern allesamt. Er bedeckt sich mit deren Kappen, Baskenmützen, einem Filzhut - alle sehen seinem Hut in äußerer Gestalt ähnlich. Keine von diesen passt, denn sie sind ihm fremd. Die Zeit verrinnt.

Vom Tragen fremder Hüte hat er genug. In einer kleinen Gasse eröffnet er ein Hutgeschäft. Vor seiner Tür die Welt, die große. Er kreiert eigene Hüte, behutsam probiert verschiedene Materialien aus, verwendet Stoff, Leder, Pelze und Stroh. Er verkauft kaum Hüte, doch darauf kommt es nicht an. Sein Reichtum ist ein anderer. Seine Hüte sind ausnahmslos zauberhaft und wunderbar. Sie gehören zu ihm. Wenn seine Welt wieder zu klein wird, lüftet er kurz seinen Hut und bindet ein farbiges Bändchen dran.
"Die Sonne der Kultur steht niedrig. Wen wundert's, dass Zwerge lange Schatten werfen."
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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon jupp » So 10. Nov 2013, 11:48

Liebe Signe,

genau so ist es, das Leben. „Er kommt auf Erden an - behütet;“ behütet in doppeltem Sinn, behütet von den Eltern, die Schutz bieten, und mit fremdem „Hut“ auf dem Kopf. Meinungen und Wertewelt der anderen als eigene, ohne über sie nachdenken zu können.

Die Vielfalt der Ausbruchsversuche, beginnend mit dem Ich-Sagen und erkennen. Mein kleiner Enkel, damals 3 Jahre, verabschiedete sich bei der Ankunft im 10. Stockwerke von dem Jungen, den er im Spiegel des Aufzugs sah, mit einem Tschüs, bevor er sich erkannte. Dann „fängt er an, den Hut zu hassen. Er wird ihm fremd; er wird sich fremd. Versuche, sich seine Kopfbedeckung vom Kopf zu reißen, scheitern“. Noch dominieren die Erzieher.

„Er zieht in die Welt, will alles unter den ungeliebten Hut bringen. Die Welt ist groß, die Welt ist klein.“ Er zieht sich viele Hüte an, sich anbiedernde und von ihm gesuchte. „Keine von diesen passt, denn sie sind ihm fremd.“ Glücklich, wer seinen eigenen Hut findet, ganz besonders, wenn er ihn aufsetzen darf. Der eine in der Ruhe des Landlebens (leise erklingt die Pastorale - leichter Kitsch an dieser Stelle -), die andere in der Verwirklichung ihres Traums vom kleinen Verlag („In einer kleinen Gasse eröffnet er ein Hutgeschäft.“). Niemand kann ihm seinen Hut zerstören („Er verkauft kaum Hüte, doch darauf kommt es nicht an. Sein Reichtum ist ein anderer. Seine Hüte sind ausnahmslos zauberhaft und wunderbar.“).

Eine wunderbare Parabel, Signe, die Du uns erzählst. „Sein Reichtum ist ein anderer.“ Das bleibt mir.

Sonntägliche Grüße
Jupp
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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon gnies.retniw » So 10. Nov 2013, 21:59

Lieber Jupp,

deine Gedanken zu meinem Text sind sehr wertvoll für mich, aus zweierlei Gründen:

Die Geschichte, die ich als Ausgangspunkt für den Text nahm, ist ein Teil der Lebensgeschichte meines Freundes. Der Versuch, seine Geschichte in eine Metapher zu setzen, scheint gelungen. Es freut mich zu lesen, dass aus der speziellen Ausgangssituation eine allgemeingültige Aussage geworden ist. Zumindest so, dass jemand, der den speziellen Kontext nicht kennt, doch das Gelesene für sich anwenden kann.

... die andere in der Verwirklichung ihres Traums vom kleinen Verlag („In einer kleinen Gasse eröffnet er ein Hutgeschäft.“).


Dieser Hinweis von dir zeigt mir, dass man (unbewußt) als Autor mehr mit seinen eigenen Geschichten verbunden ist, als man manchmal glauben möchte.

Nun bin ich mir sicher, dass ich diesen Text mit zu meiner Buchlesung nehmen werde.

Hier übrigens die Ankündigung bzw. Einladung dazu:

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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon jupp » Mo 11. Nov 2013, 12:09

Liebe Signe,

herzlichen Dank für die Einladung zu Deinem sicher erfolgreichen Auftritt. Ich Rollatorfahrer habe allerdings nur noch einen Bewegungradius von 200 m. Das reicht nicht, um von Irgendwo nach Anderswo zu kommen. Schade. Ich drücke alle Daumen!

Herzliche Grüße
Jupp
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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon jupp » Mi 13. Nov 2013, 11:11

Liebe Signe,

Du sagst:
„Dieser Hinweis von dir zeigt mir, dass man (unbewußt) als Autor mehr mit seinen eigenen Geschichten verbunden ist, als man manchmal glauben möchte.“
Das will ich entschiedener ausdrücken. Autoren schreiben fast immer ein Stück ihres Lebens oder Erlebens.
Für die Realität des Lebens will ich das soeben veröffentlichte Gedicht von Sissi, ihre Adaption der Mignon von E. Kästner als Beispiel nennen. Der Text ist so eindrucksvoll weil er spüren lässt, dass die Autorin ihr Leben und Erleben geschrieben hat. Er ist „echt“, authentisch sagt man modisch. Als Gegenbeispiel schau man kurz in das RPG – Gedönse bei Bx. Neben der Unbedarftheit der Schreibenden ist es so langweilig, weil das Geschriebene nicht erlebt ist; es ist der 1247. Aufguss einer fremden Idee.
Ich denke auch an meine geliebten Satiren, an Phantasiertes und Geträumtes. Spätestens seit dem Surrealismus, Absurdem, Dada und dergleichen wissen wir, dass solche Texte, wenn auch nicht Realität, so doch einen Teil unserer Wirklichkeit wiedergeben. Erlebtes nahm Einfluss auf unser Verhalten.

Herzliche Grüße
Jupp
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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon gnies.retniw » Mi 13. Nov 2013, 21:04

Lieber Jupp,

dem, was du über Erlebtes und Gelebtes schreibst, kann ich nur beipflichten.

Was mich ein wenig "irritierte", war die DIREKTE Assoziation durch dich "kleine Gasse" = mein Verlag ... Das war's, was mich "umhaute" ... Denn während des Schreibens war ich von Pauls Geschichte ausgegangen ... Und durch deine Assoziation wurde einmal mehr deutlich, wie sehr seine Geschichte auch meine (reale) Geschichte ist. Es war auch ein schöner Moment ... Das möchte ich nicht verschweigen ...

Liebe Grüße von Signe
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Re: Der lange Weg nach Hause

Beitragvon jupp » Do 14. Nov 2013, 10:52

Liebe Signe,

klar. Du sprachst ja auch in Deinem Text vom Unbewussten. Unbewusstes zähle ich wie Träumereien, Phantasien ... zur Wirklichkeit, die unser Denken und Verhalten beeinflussen.

Herzliche Grüße
Jupp
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