Aus meinem Künstlerleben




Belletristik und Lyrik aller Art

Aus meinem Künstlerleben

Beitragvon jupp » Sa 20. Apr 2013, 14:42


Brief aus Irgendwo


Irgendwo, 20. April 2013

Liebe Anderswoer,

in Irgendwo, meinem beschaulichen und unbeschreiblichen Heimatdorf, das dem Auge des entzückten Betrachters unter seiner überschaubaren Ansammlung von Wohnhäusern, der katholischen Pfarrkirche, dem Gasthaus „Linde“, auch 7-8 Beispiele voralpiner Brunst- und Jodelarchitektur hinter Jägerzäunen anbietet, bin ich als direkte Folge meiner außerordentlichen Kreativität als Künstler, der die Worte mit bewundernswert delikater Raffinesse auf unschuldiges Papier zu verteilen vermag, weltbekannt. Dass ich der einzige Einwohner von Irgendwo bin, der dieses Phänomen an den Tag und in die Nacht legt, mag diese Einzigartigkeit weitgehend, wenn auch nicht restlos, erklären.

Ein ziemlich großes Stück von diesem leuchtenden Ruhmesblatt, das mir zu Eigen ist - ich sage das ohne jede Angeberei, es ist einfach die Wahrheit, vielleicht sogar etwas mehr -, ist meines Hörensagens bis nach Ober-Irgendwo, einer ebenfalls, wenn auch nicht ganz so beschaulichen, da evangelischen Nachbargemeinde, durchgedrungen. Diese Behauptung entspricht der Tatsache, dass diese Durchdringung nicht nur erfolgte, weil ich dort einer vergessenen Pille und einem geplatzten Kondom von zwei meiner zu meinem Status gehörenden Sequentiellen als Begleitung meiner künstlerischen Existenz ihre wirtschaftliche Existenz sichere. Einst habe ich oftmals AH! AH! AH! geschrien, jetzt muss ich monatlich Limente zahlen. Aus eigener Erfahrung kann ich daher glaubhaft berichten, dass das Leben schönere Wunden zuzufügen vermag. Na ja, ich ertrage es tapfer. Nicht besonders üppig fallen meine Zuwendungen an die Beiden aus, man soll ja die heutige Jugend nicht grundlos verwöhnen, aber immerhin reicht es für täglich eine Schale Reis.

Doch ich kann – um diesen zweiten Grund für die nach allgemeinem Kenntnisstand vertretene Durchdringung von Ober-Irgendwo mit meiner überschäumenden Genialität will ich nun diesen Text bereichern –, mit Sicherheit kann ich davon ausgehen, dass die vorerwähnten Alimentierungen nicht der Grund dafür waren, dass eines Tages nach Geschäftsschluss, als sich die übrigen Einwohner bereits der täglichen Soap des Vorabendprogramms hingaben, der Optiker von Ober-Irgendwo in meiner Schreibstube aufzutauchen begehrte. Meine sich dort herum gesprochen habende Kunst hatte ihn auf diesen Weg gewiesen. Er ist ein großer Liebhaber der Kunst – insofern kann ich ohne Übertreibung behaupten, dass wir Gleichgesinnte sind. Aus Verlegenheit wusste doch der hochsensible Mensch nicht, wohin mit den Händen, hielt er in jeder derselben eine Flasche Rotwein. Das bemerkte ich sofort, und wurde von Entzücken erfasst, auf einen Schlag hatte sich herzliche Sympathie bei mir eingestellt. Aus diesem natürlichen Antrieb heraus sagte ich höflich „Guten Tag“, gab ihm das wohlerzogene rechte Händchen, bat ihn, mein Atelier näher zu betreten, eilte in die Küche und stellte flugs Überlegungen an, um zwei frische Gläser zu besorgen. Den Korkenzieher musste ich nicht in der Küche suchen, weil er immer in der Schreibstube bei meiner Sammlung von täglich benötigten Künstlerwerkzeugen für meinen Zugriff bereit liegt. Ich bin sehr praktisch veranlagt und eingerichtet.
Im weiteren Verlauf seines Besuchs, der sich nahtlos an das Bisherige anschloss, offenbarte mir der hochsensible Optiker seinen geheimen Wunsch, in der Heimatzeitung einen wahnsinnig intelligenten Essay zu veröffentlichen. In dieser Richtung ließ er nach einer halben Flasche Rotwein pro Person (zwar von Aldi, aber Alkohol ist Alkohol) diese Katze aus dem Sack. Kaum hatte ich diese kühne Idee vernommen, hüpfte mein Herz so gewaltig vor Freude, dass ich beherzt zum Korkenzieher griff, um auch die zweite Flasche der Bestimmung, die ihr der hochsensible Optiker zugedacht hatte, zuzuführen.

Um diese spontan meinerseits von Herzen kommende Handlung zu verstehen, muss man wissen, dass die Heimatzeitung die beste Voraussetzung bietet, um auch im weiten Umkreis vollständig weltbekannt zu werden. Zudem ist dieses Publikationsorgan fest in der Hand von sehr reifen Damen und Herren, die in einer Bürgerinitiative nach der anderen Leserbriefe erarbeiten und veröffentlichen. Das betrifft meistens Verletzungen der Mutter Erde durch ökologischen Wahnsinn, dem Kampf um eine biodynamische Weltordnung und so. Denen müsste doch das üble Handwerk durch die Veröffentlichung von hochwertigem Kulturgut als Konkurrenz zu legen sein, meinte mein Freund. Aus diesen beiden begreiflichen Gründen hüpfte mein Herz vor Freude während wir die zweite Flasche ihrer natürlichen Bestimmung zuführten.
Im Verlauf der Leerung der 2ten Bouteille habe ich mich mit dem Optiker auf den Titel meiner Arbeit als Ghostwriter geeinigt: „Vergänglichkeit“. Dieser Titel deuchte uns, meiner seit einiger Zeit überbordenden Begabung das Wasser reichen zu können. Die Vergänglichkeit sollte sehr zur Nachdenklichkeit anregen und in Reimen abgefasst sein. Ich stieg mit diesem Projekt sozusagen in die Augenhöhe der Weltkunst.

Einige Tage und etliche Flaschen Rotwein widmete ich dem zähen Ringen von kompositorischen und ästhetischen Überlegungen zur Gestaltung des hochintelligenten Werks der Weltliteratur, sowohl der Form als auch dem Inhalt. Bald musste ich feststellen, dass „Vergänglichkeit“ ein sehr schweres Thema ist. Mein begnadetes Genie war ob des sich einstellenden Zweifels kurz vor dem Zerbrechen.
Wie es der sympathische Optiker beim Abschied mit wohlgesetzten Worten gewünscht hatte, bevor er zwischen Tür und Angel trat, legte ich ihm 14 Tage später mein Werk vor. Wir waren begeistert.

VERGÄNGLICHKEIT

Im kahlen Baum saß eine Meise.
Dann flog sie fort von jenem Ort.
Da saß die Meise nicht mehr dort.

Ich weinte leise.

Als unsere Heimatzeitung dieses Meisterwerk nicht zum Druck brachte waren wir sehr enttäuscht.


Sehr herzlich grüße ich Euch
Euer jupp
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
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jupp
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von Anzeige » Sa 20. Apr 2013, 14:42

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