Adventsbrief aus Irgendwo




Belletristik und Lyrik aller Art

Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon jupp » So 1. Dez 2013, 11:15

Brief Irgendwo.jpg


Liebe Anderswoer,

heute war ich philosophisch tätig. Was dabei herausgekommen ist, lege ich hier nieder. Es sind GRÜNDLICH RAUNENDE REFLEXIONEN ZUR SINNHAFTIGKEIT DER ADVENTS- UND WEIHNACHTSZEIT. Also etwas sehr Anspruchsvolles, wie schon der Titel andeutet. Irgendwas in dieser Richtung haben Sie gewiss von mir erwartet.

Sobald bei uns in Irgendwo auf dem Land die Tagestouristen aus der Stadt rings um unsere unbeschreibliche Gemeinde im Kofferraum keine mit duftenden Pilzen gefüllte Körbe, sondern Müllsäcke voller geklauter Tannenzweige verstauen, bevor sie beim Räuschle Sepp in der „Linde“ einen ‚gemischten Braten mit Soße und Pommes’ gegen Euro eintauschen, geht mir ein helles Lichtlein auf: die Advents- und Weihnachtszeit ist gekommen. Jahreszeitgemäß bin ich sehr milde gestimmt und erinnere mich des Bibelspruchs: „Nehmen ist lukrativer als Geben“. Einfach vorbildlich, wie ein urwüchsignaturbelassenes Völkchen wie wir Irgendwoer sich noch wie selbstverständlich in den jahreszeitlichen Rhythmus der Natur einfügt. Der pilzreiche Herbst ist vergangen, es ist höchste Zeit, dass die Städter hin zu den Weihnachtsmärkten mit dem überteuerten Kitsch und der Glühweinbrühe kommen, und dass sie Tannenzweige klauen, um einen Adventskranz und ein weihnachtlich stimmendes Gesteck mit Treibholz oder Kieferzapfen als Markierung des Zeitenwechsels binden.

Im Gegensatz zu uns unverdorbenen Irgendwoern, die sich der Natur fügen, zeichnen sich die der jeweiligen neuesten Mode ergebenen Städter – als der Natur entfremdetes Unnaturvolk, das sich in grundstürzender Verkennung der Realität als „Kulturbürger“ bezeichnet – bei ihrem spätjahreszeitlichen Verhaltensmuster dadurch aus, dass sie zwar immer noch ‚gemischten Braten mit viel brauner Soße aus dem Päckchen und Pommes’, das der Räuschle Sepp anrichtet, wenn die Städter kommen, für ein verzehrbares Lebensmittel halten, aber statt Tannenzweige, die den Kofferraum ihres Lieblings mit Nadeln verunreinigen, zu klauen, ein sich sprunghaft vermehrendes Bestell- und Kaufverhalten beim Versandhandel im Internet an den Tag legen. Sie erwerben im Versandhandel oder beim Baumarkt bei den „Tälern“ einen „Komplettsatz Advent mit Sicherheitsgarantie“. In diesem Jahr soll die Luxusvariante mit 6 Lavalampenkerzen und einem Chinakracher zur Bescherung am Heiligen Abend besonders gut gehen. Ehrlich, so bescheuert können nur Städter sein.

Die Wirtschaft hat schon länger den Advent als Eventmotor, um die trägen Verbraucher zum konsumfördernden Ramschverhalten zu motivieren, entdeckt. In kreativer Anlehnung an ein natürliches Geschehen, das auch dem Landvolk durch häufiges Ausüben sehr vertraut ist, entwickelt sie ihre gedaddelte Adventsstrategie, aus der sie drei Kampagnenphasen ableitet:
a) Vorspiel,
b) Höhepunkt,
c) Nachspiel.
Als intelligenter Leser haben Sie es sicher bemerkt, die Werbeindustrie suggeriert mit diesen Kampagnephrasen, das vorweihnachtliche Raffen und der Besuch der Weihnachtsmärkte sei ein natürliches Verhalten.

Das alle Bekloppten in höchste Euphorie versetzende Vorspiel, darin durchaus dem natürlichen Vorgang vergleichbar, befasst sich mit der kaufaktivierenden Abschöpfung des Produktes Advent als solchem. Da ein Vorspiel als solches noch kein Höhepunkt ist, diesen nur vorbereiten soll, gilt es, ein Sympathie- und emotionales Ereignisfeld aufzubauen, das den nachfolgenden Höhepunkt stimulieren soll. Also werden die Showrooms und Kassen mit Adventskränzen, Tannenzweigen und Dekorationsschnee aus der Spraydose gedresst, damit auch dem letzten Verbraucher klar wird, es wird höchste Zeit zu raffen was das Zeug hält, damit der Höhepunkt b) stattfinden kann und die Liebsten feuchte Augen kriegen. Jetzt ist auch die Zeit gekommen, in der einfühlsame Chefs („Weicheier“) montags ihrer Sekretärin statt des üblichen Brauchtums (1 Schachtel „Mon Chérie“) ein Cellophantütchen mit Weihnachtsplätzchen als Drachenfutter auf den Schreibtisch legen.

Der Zweck der „Vorspielkampagne Advents- und Weihnachtszeit“ besteht darin, das dürfte jetzt klar sein, das Startzeichen dafür zu geben, ab sofort alles zusammenzuramschen was in den Regalen vorhanden ist, um die Liebsten mit Einmaligem zu beglücken. Das leuchtet ein, nach Weihnachten gibt es keinen Weihnachtsramsch mehr, sondern nur noch Osterramsch. Nur so kann es zu einem veritablen Höhepunkt kommen. Vernünftige Menschen verhüten eine Bescherung.

Ein einfühlsames Händchen von bestens geschultem Personal braucht der Handel, um in der Phase c), dem Nachspiel, auch aus unbrauchbaren Geschenken, die zum Umtausch gebracht werden, einen Zusatznutzen zu erzielen. Bringt etwa Mama einen ihrer Meinung nach zu engen Pullover („der unmögliche Geschmack von Papa“) zurück, gilt es, Mama davon zu überzeugen, dass es viel günstiger als „Geld zurück“ ist, gegen ein geringes Aufgeld ein paar Pappnasen für die baldige Faschingssaison zu kaufen. „Sie sehen wirklich 15 Jahre jünger aus, ihr Mann wird sie nicht wiedererkennen“.

Angesichts der enormen Schwierigkeiten, die mit der 3-Kampagnen-Strategie verbunden sein können, praktizieren fortgeschrittene Verbraucher wie wir Irgendwoer drei bewährte Gegenstrategien.

1. Sobald sie wahrnehmen, dass die Tagestouristen aus der nahen Stadt geklaute Tannenzweige statt Pilze im Kofferraum verstauen, jammern sie täglich 2 x über die „Sinnentleerung des christlichen Advents durch den Kommerz“, die wir in keinem Falle mitmachen werden.
2. Sollte dennoch in der Wohnung ein erstes Kerzlein brennen, nehmen sie das als Warnzeichen, das nächste Endlosband aufzulegen: „Schmuck macht alt und Pelz macht dick“. Das verdirbt die Lust auf den Luxus so sicher wie die Hängebrüste der Schneider Theres.
3. Zum Abbau der schwierigen Hürden, die sich in der Nachspielumtauschphase zeigen, schenken ausgebuffte Verbraucherprofis nur noch Pralinengebinde mit abnehmbarem Weihnachtsumpack. So kann das Geschenk – einfach den Umpack entfernen - für die Liebste problemlos in den Geschenkumlauf zu Geburtstagen, Jubiläen etc. eingeschleust werden. Das ist recht praktisch und führt zu freudigen Wiedersehensfeiern. So war es eine echte Überraschung, als Pit Segriet im letzten Jahr bei der Einladung zu unserem traditionellen Nikolausessen in der „Linde“ aus Am Haff die „Schwarzwälder Trüffel“ als Gastgeschenk brachten, die ich im Jahr zuvor einem Bx-Freund im Rheinland „mit weihnachtlichen Grüßen“ zugedacht hatte.

Bald wird bei uns das zweite Kerzlein brennen. Vermutlich werde ich bei einem Spätburgunder aus dem einheimischen Nebenerwerbsvertrieb (San Pangar macht mit ihm sein Schwarzgeld) tiefer darüber nachdenken, ob meine adventliche Betrachtung womöglich gründlich an der Sache vorbeigegangen ist.
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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon sissi » So 1. Dez 2013, 11:52

Lieber Josef,
einen fröhlichen ersten Advent.
Ich denke, der Spätburgunder kann helfen, die Sichtweise ein wenig zu entschärfen.
Der Sepp wird seinen Braten mit Soße verkaufen, die Touris ihre Tannenzapfen schön dekorieren und das Internet macht seine Geschäfte... alles lebt und hat seine Ordnung und die Sache mit den Trüffeln...
Zu Weihnachten hat Erna der Inge Mon Cherie geschenkt... und neulich, Erna hatte Geburtstag... packte die Geschenke aus und fand ein Kärtchen ... Alles Liebe zu Weihnachten von deiner Cousine Erna...
Advent, Advent, ein Kerzlein brennt... bei mir nicht... aber so könnte es gehen.
Lachende Grüße sissi
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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon Kariologiker » So 1. Dez 2013, 12:21

Da ich auch auf Fäisbuck meinen Senf abgebe ... hier mein hochfilosfischer Kommentar von heute:

Advent?

Advent, Advent ... was nervt mich das schon jetzt. Tausende von Einträgen hier auf Fäisbuck sollen mich daran erinnern, dass Christen sich vier Kerzen entzünden ... jede Woche eine mehr als letzte Woche, 24 Türchen in einem Adventskalender geöffnet werden müssen. Und dann erst Weihnachten ... dann brennt der Baum.

Man wünscht sich wünschend Wünsche mit Wünschen, die sich alle gleichen. Da bemühe ich mich schon gar nicht mehr. Wozu?

Gut, das mit dem Baum, das werden einige wenige wohl noch erklären können, wenn auch mit Mühe, denn kaum einer wird wissen, dass dieser Jesus gar nicht am 24.12 geboren worden ist. Und das ist nachgewiesen! Aber wir sind ja sooo gutgläubig und denken, dass alles, was in dieser Bibel steht schon stimmen wird ... nicht wahr? Eben! Es ist nicht wahr! Ebenso wenig das mit den drei heiligen Königen und vieles mehr...

Aber mal etwas anderes? Warum feiern wir den Advent eigentlich mit soviel Pomp und Gloria? Ist das so'ne Art Countdown zum Weihnachtsfest?
Wenn der Schnee geschmolzen ist, sieht man wo die Kacke liegt [R. Assauer]
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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon jupp » So 1. Dez 2013, 15:03

Kario hat eine Frage: "Aber mal etwas anderes? Warum feiern wir den Advent eigentlich mit soviel Pomp und Gloria? Ist das so'ne Art Countdown zum Weihnachtsfest?" Meine Antwort: als Auftakt zur weihnachtlichen Schnäppchenjagd. Deshalb alternativlos."

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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon jupp » So 1. Dez 2013, 15:11

Liebe Sissi,

"Advent, Advent, ein Kerzlein brennt... bei mir nicht... aber so könnte es gehen."

Ridi Bajazzo, dann geht es.

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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon gnies.retniw » Mo 2. Dez 2013, 04:40

Und nicht zu vergessen, dass jedes Jahr die Baumkugeln eine andere Farbe haben müssen, damit der Endverbraucher en Vogue bleibt. Und es kurbelt ja auch so schön den Inland-Binnenmarkt an. Da kann der Räuschle Sepp nicht mithalten.

Grüßchen von der sich amüsierenden Signe
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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon jupp » Mo 2. Dez 2013, 14:56

Liebe Signe,

ja der Räuschle. Er liest zwar nicht die Vogue, ist aber dennoch Spitze.

Bester Laune grüßt
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Re: Adventsbrief aus Irgendwo

Beitragvon gnies.retniw » Mi 4. Dez 2013, 00:48

jupp hat geschrieben: ... „Schmuck macht alt und Pelz macht dick“ ...


Lieber Jupp,

hätt'sde das mal nich' jeschrieben ... Jetzt haben die Adventskranz-Designer deinen Adventsbrief aus Irgendwo gelesen und dies ist nun ihre Antwort darauf:

P1040582_s.jpg


Jetzt muss sich der modebewußte Adventskranz-Benutzer mit Altem und Dickem zufrieden ... Tststs ...

Grüßchen von Signe
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