Die Entfremdung




Belletristik und Lyrik aller Art

Die Entfremdung

Beitragvon jupp » So 29. Sep 2019, 19:50

Als Jakob nach durchzechter Nacht aus albartigen Träumen gegen Mittag aus seinem Suff erwachte, sah er sich durch den unbarmherzig quälenden Kater verwandelt. Er war sich sozusagen irgendwie total entfremdet wie ein Landarzt, der in die geheimnisvollen Gemächer des Schlosses berufen wurde, damit ihm kurzer Prozess gemacht würde. Er lag auf seinem Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen, vom Biergenuss, stark gewölbten Bauch. In seinem Kopf dröhnte ein Hammerwerk, vom Wenzelplatz her, so schien ihm, jaulte ein Orchester von Signalhörnern.
‚Was ist nur mit mir geschehen?’ dachte er, ‚jemand muss mich abgefüllt haben.
Es war kein Traum, Jakob war in der Realität. Sein richtiges, nur etwas zu kleines Mansardenzimmer, schwankte unruhig wie die Meinung eines Interpreten (ontologisch, metaphysisch oder religiös?) zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Die Tapeten waren die alten. Über dem Tisch, auf dem eine ausgepackte Musterkollektion von Zeitschriften ausgebreitet war – Jakob war ein Zeitschriftenwerber an Haustüren -, hing ein Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Es stellte eine Dame dar, die, ohne mit einem Bekleidungsstück versehen zu sein, aufrecht dasaß und mit ihren Händen ihre weibliche Ausstattung dem Betrachter entgegen hob. Und das am frühen Morgen. Jakob schauderte.
‚Dieses frühzeitige Aufstehen’, dachte er, ‚macht einen ganz blödsinnig. Ein Mensch muss nach einem ordentlichen Suff seinen Schlaf haben. Ich hätte diese rätselhafte Arbeit längst kündigen sollen, wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung vom Grund des Herzens gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen, als wäre er aus den Wolken gekommen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit den Angestellten zu reden. Er ist eine Kreatur von Chef, ohne Rückgrat und Verstand. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um meine Zechschulden abzubezahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird, gleich den Vertretern von Versicherungen, der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muss ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf’. Jakob fühlte sich tatsächlich, abgesehen von dem kurzen Schlaf nach durchzechter Nacht, arg mitgenommen.
Jakob M. konnte sich – ein existentialistischer Ausfallschritt – nur in Bruchstücken an den Verlauf des gestrigen Abends erinnern, denn er war von einem Filmriss gezeichnet. Schon die Bibel kennt solche Zustände, ohne dass sich Jakob M. daran erinnerte. Ursprung der Merkwürdigkeit war wohl der kabbalistische Umstand, dass er bereits im Verlaufe des Nachmittags eine Flasche Tokajer verinnerlicht hatte. Als er aus dem Haustor mit kleinen schwankenden Schritten trat, wurde er, da es schon düster war, vom Mond und den Sternen am hochgewölbten Himmel und dem Ringplatz mit Rathaus, Mariensäule und Kirche überfallartig begrüßt. Er schwankte gemächlich im Mondlicht dahin, knöpfte den Überzieher auf, damit ihm warm werde, dann ließ er sein Hände sich erheben. Er fing an zu überlegen, worauf dieses merkwürdige Verhalten zurückgeführt werden könne.

(Persiflage nach F. Kafka)
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
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Re: Die Entfremdung

Beitragvon gnies.retniw » Mi 9. Okt 2019, 08:19

Jakob sich selbst so fern, Prag so nah ...
"Die Sonne der Kultur steht niedrig. Wen wundert's, dass Zwerge lange Schatten werfen."
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