Debilitätsdiarrhoe




Belletristik und Lyrik aller Art

Debilitätsdiarrhoe

Beitragvon jupp » Mo 17. Sep 2018, 14:00

DEBILITÄTSDIARRHOE
Annäherungen an eine Volkskrankheit

DER VORSPANN
Vor den ebenso erwartungsgespannten wie geradezu von unerschöpflicher Blödheit geschlagenen Dreinschauenden, - schon an dieser Stelle offenbart sich der Intellekt einer dehydrierten Amöbe - von den ersten Pilsken und Körnken (bei den Älteren) beziehungsweise Alkopopis (bei den Jüngeren) leicht feuchtleuchtenden Augen der vorabendlich erwartungsvoll sitzenden, in Joggingklamotten gekleideten Fäns der flatulierenden Seifenindustrie breitet sich auf dem allabendlichen Flachbildschirm – ungefähr ein Drittel so breit wie Tante Helene aus Gelsenkirchen oben- und mittendrumherum, aber so flachhirnig wie die Vorabendseifeerwartenden, über die die Privaten und die „öffentlich-rechtlichen Pissrinnen“ (Georg Schramm) ihre Schirmherrschaft ausbreiten – der Vorspann zum Folgedrama auf dem Hausaltar aus. „Mammababbadaddaballaballa ...“, was die flachbildigen Seifenfäns mit der Konsistenz eines depravierten Rhinozeros kurz vor der Eiablage als Musik interpretieren. Gerappt oder sowas. Also sozusagen irgendwie total. Gaga ballaballa. Unversehens öffnet sich der Anblick des Verlustes in dieser Zeit des Werteverfalls.

Stimme aus dem Off: „Wir befinden uns, eingebettet in die liebliche Landschaft, in einer glücklichen Vorortreiheneigenheimzersiedlung am Rande des östlichen Ruhrgebietes, das dort – wie in anderen Bereichen auch – zu Ende geht. Unser Horizont ist begrenzt von den museumsreifen Fördertürmen unserer deutschen Steinkohle, den rauchenden Schloten unserer einzigartigen Industrielandschaft, den qualmenden Kühltürmen unserer Kokereien und Kraftwerke und überhaupt. Der Mensch in seiner ganzen Hinfälligkeit offenbart sich vor unseren geöffneten Augen. Doch das soll unsere Freude an der allabendlichen Seife nicht im Geringsten stören. Auch geistiges Dörrobst hat ein Recht darauf. Unsere Seelen sind gefüllt von ländlichen Heimatgefühlen. Seht doch nur“, der Vorspanntrailer bebildert das Geplapper sehr einfühlend wie das in einer Verblödungsshow des Sozialkitsch üblich ist, „wie der freundliche Nachbar, mit einer bauchverdeckenden, grünen Gärtnerschürze ummantelt, mit einer Nagelschere seinen Rasen (6 m²) an der Entfaltung hindert, keinem Grashalm die Chance zum Sprießen lässt, damit er nicht auf den dummen Gedanken kommt, unter dem xylamonisierten Jägerzaun hindurch zum Vorortreiheneigenheimzersiedlungshäuschen hinüber zu wuchern. Offensichtlich gehört der freundliche Nachbar zur Gilde derer, die ein Omelett nicht von Hamlet unterscheiden können. Vollziehen Sie das glückliche Lächeln des freundlichen Nachbarn jenseits des xylamonierten Jägerzaunes mit, da es ihm gelingt, mit einer einfachen Nagelschere die nachbarschaftlichen Beschwerden über menschenunwürdige Gartengestaltungs- und Behandlungshandhabung ohne jahrelange Prozesse (obwohl auch er eine Rechtsschutzversicherung hat) unter wunderbar menschliche Kontrolle zu bringen. In ‚coole Seifen – schlechte Seifen’ kommt es nicht zu fernsehuntauglichen menschlichen Problemen. Wir sind doch eine glückliche, fernsehtaugliche Menschenfamilie, die sich über die Vorortreiheneigenheimzersiedlungen in diesem unserem Land verteilt.“ So erweist sich die Produktion von Vorabendseife als Konditionierungstechnik zur Herstellung von Verblödeten.

Aufmunternde Musik. Papa nimmt die nächste Dose von der Palette vom Aldi. Mama nimmt lieber den gewohnten Eierlikör. Der Vorspanntrailer blendet professionell gekonnt zu einem der mehreren lieben Hundileinchen, die im Abstandsgrün zu unserem idyllisch mustergültigen Vorortreiheneigenheimzersiedlungshäuschen Gassi-gassi-gehen und so den
natürlichen Mittelpunkt des Familiengeschehens darstellen, über. Das Hundchen hat soeben einen ordentlichen Kack – „och wie süß!“ – unter der Kirschlorbeerhecke an der Grenze kurz vor dem xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn (auch er hat nichts als Scheiße zwischen seinen
Ohren) in seiner grünen, bauchverdeckenden Gärtnerschürze abgelegt, schon eilt er behände zu einem der anwesenden Frauchen in der musterhaft glücklichen Einheitsfamilie, wird wegen seines braven Ausschisses zuerst gelobt, dann gestreichelt und gekrault. Was das Hundchen zum Anlass nimmt, mit dem Schwanz zu wedeln. Eine wirklich existentielle Szene aus unserer Gesellschaft, spannend und intellektuell wie die rosa Lockenwickler meiner Oma.

Stimme aus dem Off: „Welches schicksalhafte Drama spielte sich in der Kulisse in der 1794. Folge in der Wirklichkeit ab?“
Der Vorspanntrailer blendet zu den Mülltrenntonnenboxen rechts zwischen Garage, bevor der xylamonierte Jägerzaun beginnt, wonach es zum Sauerland übergeht, über. Hinter den Mülltrenntonnenboxen wird ein blutjunges, in den Anfängen der Pubertät steckenden Girlieplusboypärchen sichtbar, das sich sehr fröhlich gibt, während deren Lippen sich in der Weise zueinander bewegen, dass es zu einem Aufeinandertreffen dieser Körperteile käme, würde die zartbesaitete Kamera nicht rechtzeitig in die tierärztliche Praxis von Dr. Springsamen schwenken, in der soeben eine sehr adrette – zwar leicht mit einem winzigen Top, das ihre oberkörperlichen Attribute wirkungsvoll präsentiert, doch noch vorabendserienkompatibel bekleidete – Assistentin den beschädigten Tierchen/Frauchen/Herrchen ihre individuelle Box zur nachfolgenden Behandlung zuweist. (Erstaunlich, welche Horde von blonden Silikonträgerinnen, die sich offensichtlich seit längerer Zeit auf dem makrobiotischen Trip befinden, und schönen Blödmänner die Matschscheibenproduzenten in 3 Minuten auf dem Flachbildschirm unterbringen.) Ohne die sehr adrette Assistentin oder den Tierarzt Dr. Springsamen näher zu beleuchten, folgte an dieser Stelle eine Werbepause. Daher bietet unsere Vorabendsoap kein putziges Rauf und Runter zwischen Dr. Springsamen und seine beutegierigen Assistentin an. So humorlos ist eine für die ganze Familie geeignete Vorabendsoap, dass es wehtut.
Papa nimmt die nächste Dose von der Paletti vom Aldi. Mama bleibt bei ihrem Eierlikör.

WAS BISHER GESCHAH

Was am gestrigen Vorabend des heutigen Vorabends geschah, erläutert der fröhlichen flachbildkompatiblen Glotzerfamilie nebst ihren Hundis, Katzis und dem Kanarienvogel Hansi die Stimme aus dem Off, damit die total begeisterten Fäns nicht orientierungs- und fassungslos am heutigen Vorabend in den Abend hineingeseift hindämmern.

Stimme aus dem Off: „Wie in allen bisherigen Folgen, so bildete auch in der 1794. Folge das idyllische Reiheneigenheimzersiedlungshäuschen mit dem xylamonierten Jägerzaun, eingebettet in die liebreizende Landschaft des östlichen Ruhrgebietes, das dort zu Ende und in das Sauerland übergeht, die beschaulichtraute Kulisse. Immer noch ist unser Horizont begrenzt von den museumsreifen Fördertürmen unserer deutschen Steinkohle, den rauchenden Schloten unserer einzigartigen Industrielandschaft und den qualmenden Kühltürmen unserer Kokereien und Kraftwerke.“
Die Stimme aus dem Off ist getragen-heiter-sympathisch, ähnlich jener tonalen Begleiterscheinung eines Tierfilms „Exoten der Erde“ bei arte. Der duddeldaddelnde Musikuntergrund durchwebt andrérieuxhaft die Szene.

Großmutter Hilde in Nahaufnahme

Stimme aus dem Off: „Die 1794. Folge unserer vorabendlichen Seifenstücke für die ganze Familie zeigt die sich etwas schwer von Begriff befindliche Großmutter Hilde – eine solche aus dem Leben Gegriffene darf in keiner Seife fehlen -, wie sie von der 83. ruhe- und rastlosen Suche nach ihrem schon lange zurückliegenden ersten Liebhaber, der seit der Schlacht von Verdun amtlich als „vermisst“ geführt wird, was Großmutter Hilde ebenso tief empfindet, erneut erfolglos in die traute Familienidylle zurückkehrt, nachdem ein drogenverseuchter Seelenklempner sie vergebens 76 mal auf die Couch gelegt hat. Das macht sie sehr traurig, aber sie weint noch nicht. Damit beginnt sie erst, als ihr Katzilein ihre Dritten in seine Gewalt bringt und sie durch den xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn mit der bauchverdeckenden grünen Gärtnerschürze hinüberträgt und vor dem in Betrieb befindlichen Rasenmäher ablegt. Von diesem beweglichen Geschehen lässt sich Großmutter Hilde nicht entmutigen. Sie wird in der heutigen 1795. Folge erneut aufbrechen, um ihre längst zu Ende gekommene Vergangenheit zu finden. Sie streichelt und krault ihr Hundilein, welches daraufhin mit seinem Schwanz wedelt, was Großmutter Hilde etwas Tröstliches ist.
Dann folgte eine Werbepause.“

Mutter Elisabeth in Nahaufnahme

Nachdem das zigeunerbaronartige Musikintermezzo kurz stärker zu Gehör gebracht wurde, meldet sich wieder die
Stimme aus dem Off:
„Auch in der 1794. Folge war Mutter Elisabeth in ununterbrochener Folge damit beschäftigt, einen Erfolg zu erleben. Sie hat sich in den quälend langen Jahren seit der 1. Folge kein bisschen verändert, weil ihr mehrere Liftaufenthalte und 5 Botoxspritzenanwendungen jene gefestigte authentische Persönlichkeitsgestalt vermittelt haben, die heute noch ihr blendendes identitätstiftendes Erscheinungsbild als deutsche Zahnarztfrau prägt. Ihr kunststoffchemikalisiertstabilisierter Zustand wird noch mindestens 645 Folgen überstehen. Mutter Elisabeth ist die Idealbesetzung für diese Rolle, grenzdebil, unabänderbar talentlos, aber faltenlos. Nachdem sie in den früheren Folgen wechselnd einen Friseur, extravagant wie ein Fruchtjoghurt vom Aldi, einen Mann, Schönheitsberater für Fußballerfrauen, und einen angebenden Erfolgspolitiker, fernsehgerecht ein aufgeblasener Gernegroß, in die traute Reiheneigenheimfamilienidylle eingeführt hat, hat sie diesmal einen Porsche mit silberhaarigem Frauenarzt im Begleitgepäck. Sie ist sehr glücklich, denn folgend wird es wahrscheinlich zu einer verbotenen Liebe kommen. Im Verlaufe des familienumfassenden Kaffeetrinkensundkuchenessens fasst sie den Entschluss, ihren schon seit 2 Tagen bestehenden Entschluss in die Tat umzusetzen: im Anschluss an den jugendfreien Vorabendseifenabend will sie mit ihrem ihr auch außerdienstlich zu Dienstleistungen bereiten silberhaarigen Frauenarzt jugendgefährdende Handlungen unternehmen. Lieblich versonnen streichelt sie ihr Hundilein und krault ihm das Fell, was dieser zum Anlass nimmt, mit seinem Schwanz zu wedeln.
Es folgte eine Werbepause.“

Tochter Anna-Laura in Nahaufnahme
Die kurz aufgedrehte Tonbeschallung ist nun wieder ganz andrérieuxartig, ausuferndes Largo mit dahinschmelzenden Glissandi und frühlingsfühligem Vibrator.

Stimme aus dem Off: „Die pubertierende, mit niedlichen Teeniebrüstchen ausgestattete Anna-Laura verübt hinter den Mülltrenntonnenboxen zwischen Garage und voll erblühtem Fliederbusch, welcher seinerseits an den xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn mit bauchverdeckender grüner Gärtnerschürze angrenzt, schüchtern suchend, wie es dem mittleren Aknealter, in der noch nicht oft Gelegenheit zur übenden Praxis war, gut zu Gesicht steht, erste Annäherungsversuche an ihren ersten Freund Udo. Der Fliederbusch verströmt sich betörend. Dieses Geschehen lässt auf aufkeimende Liebesgefühle schließen, wie sie bei der unbeschwerten Jugend häufig in der Taschentuchliteratur geschildert sind und bei hirnfreien Flachwitzreißern, den sogenannten Comedys, das Repertoire füllen. Als bei ihrem körpersprachlichen Annäherungsvorgehen ihr fein- und zartgliedriges Händchen streichelnde Bewegungen ausführt, entdeckt sie, dass Udo schwul ist. Anna-Lena macht eine Betroffenheitsgeste, als ob ein böser Mann soeben ihrem lieben Katzilein den Kopf abgeschnitten hätte. Udo setzt eine fröhliche Miene auf als hätten sich polymorph chronische Verdauungsbeschwerden plötzlich gelöst. Nach disem kurzen Zwischenspiel finden beide jungen Menschen schnell ihre gewohnte Fassung wieder. Daraufhin führt Anna-Laura mit Udo ein einfühlendverstehendes Betroffenheitsgespräch, das selbst abgebrühte Brigitte-Leserinnen zu Tränen rührt, gegen dessen Ende Udo seine authentische kulturelle Identität findet und Anna-Laura authentisch bleibt. Beide beschließen gute Freunde zu bleiben einen Selbsterfindungsworkshop zu absolvieren und sich der Familie zu offenbaren. In einem weiteren Betroffenheitsgespräch nach dem Strickmuster eines einfühlenden Seelenklempners mit deutlich neurotischen Zügen wollen sie sich öffnen, einbringen und austauschen. Sie kehren auf die Terrasse zum familienfreundlichen Kaffeetrinkenundkuchenessen zurück. Anna-Laura krault das Fell des Hundileins von Großmutter Hilde und streichelt ihn, was der treuherzig Blickende zum Anlass nimmt, mit dem Schwanz zu wedeln. Wauwaus sind für Kraulen und Streicheln immer dankbar. Anna-Laura findet das megacool und sozusagen irgendwie total tröstlich.
Dann folgte eine Werbepause.“

Papa geht auf die Toilette. Nach seiner Rückkehr nimmt er sich die nächste Dose von der Palette vom Aldi. Mama muss auch. Nach ihrer Rückkehr wechselt sie zu den Alkopops von Anna-Laura. Der morbide Charme von Hängebauchschweinen füllt die Wohnstube im Reihenzersiedlungseigenheim am Rande des Ruhrgebiets.

1795. FOLGE: DER BEGINN
Drei wirkungsmächtige Akkorde am Ende des Vorspanns, die sich an ‚Zarathustra’ erinnern. Kurze Stille.

Stimme aus dem Off: „Liebe Fäns von ‚coole Seife – schlechte Seife’, Sie sind jetzt echt gespannt, was in der heutigen 1795. Folge geschieht. Gleich nach der Werbung geschieht dasselbe wie in den 1794 Folgen zuvor. Bleiben Sie dran.“

Deutsche Vorabendsoap, Müll von der grausamen Penetranz einer Bulimieparade: eine ausgesprochen skurrile Absurdität.
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
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