Ich bin letztlich, nach sehr langer Zeit, wieder einmal Straßenbahn gefahren. Eigentlich wollte ich ein Taxi nehmen, doch meine Bekannten, die ich nur kurz besucht hatte, versicherten mir sehr überzeugend, dass ich mit der Straßenbahn viel schneller mein Ziel erreichen würde und zudem nur einen Bruchteil zu zahlen hätte.
Vollkommen unbefangen bestieg ich den Wagon. Ich schaute mich, bevor ich mir einen Sitzplatz auswählte um, denn zum einen sitzt man nicht gerne irgendwo und zum anderen suchte ich einen Schaffner, so, wie ich es von früher kannte. Ich sah keinen.
„Wie bekommt man denn jetzt eine Fahrkarte?“, fragte ich laut vor mich hin.
„Die müssen Sie am Automaten ziehen“, sagte mir ein freundlicher Herr, „dort in der Mitte ist einer, da!“ und zeigte mit seinem Zeigefinger direkt drauf.
Ich bedankte mich und ging, wie auf Seemannsbeinen durch die schaukelnde, ruckelnde Bahn zum Automaten. Die Navigation dieses Automaten war nur schwerlich zu erkennen, da die unrhythmische Fahrt über die Gleise es selten einem ermöglichte die Aufschriften in aller Schärfe fokussieren zu können, um die Logik in der Hinweiskaskade kompakt zu erfassen und eine, meinen Fahrziel entsprechenden Fahrkarte zu kaufen.
Das erste, was ich konkret lesen konnte, war „Kurzstrecke“. Was ist eine Kurzstrecke, sinnierte ich vor mich hin.
„Wenn Sie nicht mehr als zwei Stationen fahren wollen,“ sagte ein schon genervter junger Mann neben mir. Ich schaute mich zwar dankend um, bereute es aber gleich, als ich das schwebend erscheine Baseballcap auf seinem Kopf sah und dachte, gut, dann fahre ich eben nur zwei Stationen, denn die erste war schon vorbei und eigentlich musste ich insgesamt nur drei Stationen fahren. Also drücke ich auf den Knopf auf dem Kurzstrecke stand und suchte nun den Schlitz, in dem ich einen Fünf-Euro-Schein einstecken konnte.
„Mensch, Alter, hier musste passend zahlen! Der gibt kein Wechselgeld zurück und Scheine nimmt der schon gar nicht.“ Wie bitte, dachte ich? In jedem Parkhaus kann man Geldscheine nutzen, bekommt das Wechselgeld zurück und zudem wird einem auch noch angeboten eine Quittung ausgedruckt zu bekommen. Nicht so in einer Straßenbahn. Da der junge Mann schon sehr deutlich seinen Unmut zeigte, lies ich ihn lieber vor und als dieser seinen Fahrschein gerade aus dem Automaten zog, merkte ich im allerletzten Moment, dass selbst die zwei, immer noch nicht bezahlten Stationen, mittlerweile schon erreicht worden waren und so sprintete ich zum Ausgang, sprang im letztmöglichen Augenblick aus der Bahn und wähnte mich im Glück. Nichts bezahlt und schon am Ziel. Ganz schön schnell diese Straßenbahnen, dachte ich noch und versuchte mich nun auf dem Bahnsteig zu orientieren. Wo war ich eigentlich gelandet? Keiner der Straßen, deren Namen ich von den Straßenschildern ablesen konnte, waren mir bekannt.
„Entschuldigen Sie bitte, bin ich hier am Schillerplatz?“ fragte ich eine alte Frau.
„Nein, der ist genau in der anderen Richtung“, antwortete diese noch bevor sich ein Angestellter der Bahngesellschaft hinter mir zu Wort meldete:
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Oh, Sie kommen wie bestellt“, freute ich mich ihm entgegen und fragte gleich weiter:
„Also, ich bin mit einem Kurstreckenfahrschein leider in die falsche Richtung gefahren und würde nun gerne wieder zurück.“
„Ja, dann fahren Sie doch“, erwiderte er etwas pampig, „oder gib es ein Problem?“ lenkte er schnell noch ein.
„Nun, wenn Sie schon so fragen, dann würde ich die Fahrt in die falsche Richtung gerne zurück erstattet haben, denn die war ja vollkommen umsonst und statt dessen eine Kurzstrecke ab hier bis zur Brachtstraße von Ihnen erbitten und zusätzlich eine Kurzstreckenfahrkarte bei Ihnen kaufen, die mich von der Brachtstraße zum Schillerplatz bringt.“
„Und sonst geht es Ihnen gut?“ fragte er mich stierig anschauend.
„Ja, warum?“ Ich war sichtlich irritiert und ich bekam langsam Zweifel.
„Zur Brachtstraße sind es drei Stationen und keine zwei. Wo sind Sie denn eingestiegen?“
„In der Brachtstraße, das sagte ich doch schon.“
„Dann zeigen Sie mir doch mal Ihren Kurzstreckenfahrschein.“
„Ehm, ich habe keinen, weil der Automat in der Bahn keinen Fünf-Euro-Schein annimmt.“
„Verstehe ich das richtig?“, fragte er vorwurfsvoll gestikulierend, „Sie wollen von mir einen Kurzfahrschein für eine Fahrtstrecke bekommen, die keine Kurzfahrtstrecke ist und das für ein Fehlfahrt, die sie noch gar nicht bezahlt haben?“
„Ja. Das ist gewiss etwas interpretationsvariabel, aber nicht unlogisch - das mit der Fahrkarte zumindest - denn ich habe mich schließlich redlich bemüht in den Besitz einer solchen zu kommen.“
„Das ist ja schön und gut, mein verehrter Herr, aber weder die Fahrtstrecke von der Brachtstraße bis hier hin ist eine Kurstrecke, noch die Fahrt von der Brachtstraße bis zum Schillerplatz.“
„Sind Sie sich da völlig sicher?“ fragte ich in einem letzten Versuch von Unschuldsvortäuschung, wohl wissend, dass mein Urteil mit dieser Tatsachenentscheidung schon längst gefällt war und das Schwert des Damokles seit geraumer Zeit über mir schwebte.
„Ich bin sogar mehr als das, Sie Unschuldsengel, und ich möchte Sie erst gar nicht lange im Ungewissen lassen, denn selbst der Versuch eines Betruges ist strafbar und um jede Form des Missverständnisses diesbezüglich zu vermeiden, die Polizei ist schon unterwegs.“
Ich wollte eigentlich ein Taxi nehmen.
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