Stöbern bei Diderot




Belletristik und Lyrik aller Art

Stöbern bei Diderot

Beitragvon jupp » Fr 18. Okt 2013, 13:52

Titel Text II 600.jpg


Sein 300. Geburtstag war mir Anlass, wieder einmal bei Diderot zu stöbern. (Denis Diderot, Erzählungen und Gespräche, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1953) 2 Lesefrüchte:
„Auf jeden Fall gibt es nichts Besseres, sich vor Täuschung und Irrtum zu bewahren, als immer wahr zu sein gegen sich selbst.“
(S. 10)
„Ein Mensch darf den Gebrauch seines Überflusses nicht für gerechtfertigt halten, solange andere darben.“ S. (443)

Das erste Zitat gehört an den Spiegel im Bad, es ist eine tiefsinnige Mahnung zu Tagesbeginn.
Das zweite Zitat gehört an den Kühlschrank. Ich lese es auch als Kontrast zu jener Töricht, die Marie-Antoinette zugeschrieben wird: "Was das Volk hungert? Es hat kein Brot? Soll es doch Kuchen essen."

Gruß
jupp
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
Benutzeravatar
jupp
Administrator
 
Beiträge: 231
Registriert: Sa 20. Apr 2013, 10:15
Wohnort: Irgendwo, ein kleines Dorf in der Provinz

von Anzeige » Fr 18. Okt 2013, 13:52

Anzeige
 

Re: Stöbern bei Diderot

Beitragvon Ermelyn » Sa 19. Okt 2013, 15:49

Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.

Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.

Heine
Benutzeravatar
Ermelyn
 
Beiträge: 2
Registriert: Mi 18. Sep 2013, 14:46
Wohnort: Atlantis

Re: Stöbern bei Diderot

Beitragvon jupp » Sa 19. Okt 2013, 19:52

Lieber Ermelyn,

Dokumentation Jean Ziegler: Nicht gehaltene Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele
24.07.2011
Ursprünglich sollte der Schweizer Soziologe Jean Ziegler die Rede zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele halten - wegen seiner angeblichen Nähe zum libyschen Despoten Muammar al-Gaddafi wurde er dann aber wieder ausgeladen. Ziegler hat seine Rede trotzdem geschrieben. sueddeutsche.de dokumentiert sie im Wortlaut.
"Sehr verehrte Damen und Herren,
alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.
Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.
Gestorben wird überall gleich. Ob in den somalischen Flüchtlingslagern, den Elendsvierteln von Karachi oder in den Slums von Dhaka, der Todeskampf erfolgt immer in denselben Etappen. Bei unterernährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein. Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf. Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen.
Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod.
Die Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führen, sind vielfältig und oft kompliziert.
Ein Beispiel: die Tragödie, die sich gegenwärtig (Juli 2011) in Ostafrika abspielt. In den Savannen, Wüsten, Bergen von Äthiopien, Djibouti, Somalia und Tarkana (Nordkenia) sind 12 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit fünf Jahren gibt es keine ausreichende Ernte mehr. Der Boden ist hart wie Beton. Neben den trockenen Wasserlöchern liegen die verdursteten Zebu-Rinder, Ziegen, Esel und Kamele. Wer von den Frauen, Kindern, Männern noch Kraft hat, macht sich auf den Weg in eines der vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge und vertriebene Personen eingerichteten Lager.
Das Geld fehlt
Zum Beispiel nach Dadaad, auf kenianischem Boden. Dort drängen sich seit drei Monaten über 400.000 Hungerflüchtlinge. Die meisten stammen aus dem benachbarten Südsomalia, wo die mit Al-Quaida verbundenen fürchterlichen Chebab-Milizen wüten.
Seit Juni treten täglich rund 1500 Neuankömmlinge aus dem Morgennebel. Platz im Lager gibt es schon lange nicht mehr. Das Tor im Stacheldrahtzaun ist geschlossen. Vor dem Tor führen die UNO-Beamten die Selektion durch: Nur noch ganz wenige - die, die eine Lebenschance haben - kommen hinein. Das Geld für die intravenöse therapeutische Sondernahrung, die ein Kleinkind, wenn es nicht zu sehr geschädigt ist, in 12 Tagen ins Leben zurück bringt, fehlt.
Das Geld fehlt. Das Welternährungsprogramm, das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1. Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten von 180 Millionen Euro. Nur 62 Millionen kamen herein. Das normale WPF (World-Food-Programm) Budget betrug 2008 sechs Milliarden Dollar. 2011 liegt das reguläre Jahresbudget noch bei 2,8 Milliarden.
Sie sind jetzt auf Seite 1 von 3 nächste Seite

Dokumentation Kein Geld für humanitäre Hilfe
24.07.2011, 16:19
Warum? Weil die reichen Geberländer - insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien - viele tausend Milliarden Euro und Dollars ihren einheimischen Bank-Halunken bezahlen mussten: zur Wiederbelebung des Interbanken-Kredits zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für die humanitäre Soforthilfe (und die reguläre Entwicklungshilfe) blieb und bleibt praktisch kein Geld.
Wegen des Zusammenbruchs der Finanzmärkte sind die Hedgefonds und andere Groß-Spekulanten auf die Agrarrohstoffbörsen (Chicago Commodity Stock Exchange, u. a.) umgestiegen. Mit Termingeschäften, Futures, etc. treiben sie die Grundnahrungsmittelpreise in astronomische Höhen.
Die Tonne Getreide kostet heute auf dem Weltmarkt 270 Euro. Ihr Preis lag im Jahr zuvor genau bei der Hälfte. Reis ist um 110% gestiegen. Mais um 63%.
Was ist die Folge? Weder Äthiopien, noch Somalia, Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen - obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war. Dazu kommt: Die Länder des Horns von Afrika werden von ihren Auslandsschulden erdrückt. Für Infrastrukturinvestitionen fehlt das Geld. In Afrika südlich der Sahara sind lediglich 3,8% des bebaubaren Bodens künstlich bewässert. In Wollo, Tigray und Shoa auf dem äthiopischen Hochland, in Nordkenia und Somalia noch weniger.
Die Dürre tötet ungestört. Diesmal wird sie viele Zehntausende töten.
Viele der Schönen und der Reichen, der Großbankiers und der Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind die Verursacher und die Herren dieser kannibalischen Weltordnung.
Was ist mein Traum? Die Musik, das Theater, die Poesie - kurz: die Kunst - transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen, welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die dickste Betondecke des Egoismus, der Entfremdung und der Entfernung. Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte Emotionen.
Dokumentation Defensiv-Mauer der Selbstgerechtigkeit
24.07.2011, 16:19
Und plötzlich bricht die Defensiv-Mauer seiner Selbstgerechtigkeit zusammen. Der neoliberale Profitwahn zerfällt in Staub und Asche. Ins Bewusstsein dringt die Realität, dringen die sterbenden Kinder. Wunder könnten in Salzburg geschehen: Das Erwachen der Herren der Welt. Der Aufstand des Gewissens! Aber keine Angst, dieses Wunder wird in Salzburg nicht geschehen! Ich erwache. Mein Traum könnte wirklichkeitsfremder nicht sein! Kapital ist immer und überall und zu allen Zeiten stärker als Kunst. "Unsterbliche gigantische Personen" nennt Noam Chomsky die Konzerne.
Vergangenes Jahr - laut Weltbankstatistik - haben die 500 größten Privatkonzerne, alle Sektoren zusammen genommen, 52,8% des Welt-Bruttosozialproduktes, also aller in einem Jahr auf der Welt produzierten Reichtümer, kontrolliert. Die total entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie. Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht.
Es geht nicht um seine Emotionen, sein Wissen, seine Gefühle. Es geht um die strukturelle Gewalt des Kapitals. Produziert er dieses nicht, wird er aus der Vorstands-Etage verjagt. Gegen das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation sind selbst Beethoven und Hofmannsthal machtlos.
"L'art pour l'art" hat Théophile Gautier Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Die These von der autonomen, von jeder sozialen Realität losgelösten Kunst, schützt die Mächtigen vor ihren eigenen Emotionen und dem eventuell drohenden Sinneswandel.
Die Hoffnung liegt im Kampf der Völker der südlichen Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen Herrschaftsländern. Kurz: in der aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären Gegengewalt.
Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.
Mutter Courage, aus dem gleichnamigen Drama von Bertolt Brecht, erklärt diese Hoffnung ihren Kindern:
Es kommt der Tag, da wird sich wenden
Das Blatt für uns, er ist nicht fern.
Da werden wir, das Volk, beenden
Den großen Krieg der großen Herrn.
Die Händler, mit all ihren Bütteln
Und ihrem Kriegs- und Totentanz
Sie wird auf ewig von sich schütteln
Die neue Welt des g'meinen Manns.
Es wird der Tag, doch wann er wird,
Hängt ab von mein und deinem Tun.
Drum wer mit uns noch nicht marschiert,
Der mach' sich auf die Socken nun.
Ich danke Ihnen
Jean Ziegler"
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
Benutzeravatar
jupp
Administrator
 
Beiträge: 231
Registriert: Sa 20. Apr 2013, 10:15
Wohnort: Irgendwo, ein kleines Dorf in der Provinz

Re: Stöbern bei Diderot

Beitragvon gnies.retniw » So 20. Okt 2013, 10:59

Lieber Jupp, lieber Ermelyn,

Machen wir uns kein Abendbrot, machen wir uns Gedanken.
sagte der Kabarettist Wolfgang Neuss. Bei diesen Fakten wird man immer verzweifelter, weil man den Grund kennt, jedoch hilflos zuschaut ... Wäre es leichter, wenn die Welt ein Dorf wäre? Wäre unsere Kraft, dem Nachbarn zu helfen dann größer? Ich weiß es nicht ...

Vor dem Tor führen die UNO-Beamten die Selektion durch: Nur noch ganz wenige - die, die eine Lebenschance haben - kommen hinein.


Selektion ist wohl zu allen Zeiten Anmaßung ...

Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht.
Es geht nicht um seine Emotionen, sein Wissen, seine Gefühle.


Es soll noch schlimmer kommen ... Gefangene, die als (erwiesenermaßen) Soziopathen straffällig wurden, werden nun als Manager ausgebildet. Diese Ausbildung ist deren Ticket in die Freiheit. Es wird ganz bewußt die fehlende Empathie dieser Kandidaten für diese Tätigkeit genutzt ...

Gruß von Signe
"Die Sonne der Kultur steht niedrig. Wen wundert's, dass Zwerge lange Schatten werfen."
Benutzeravatar
gnies.retniw
 
Beiträge: 110
Registriert: So 21. Apr 2013, 11:56
Wohnort: Anderswo. Liegt gleich neben Irgendwo.


TAGS

Zurück zu Texte

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast

cron