Seifenoper




Belletristik und Lyrik aller Art

Seifenoper

Beitragvon jupp » Do 10. Jul 2014, 09:11

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COOLE SEIFE – SCHLECHTE SEIFE

Annäherungen an eine Volkskrankheit



DER VORSPANN

Vor den erwartungsgespannten, von den ersten Pilsken und Körnken (bei den Älteren) beziehungsweise Alkopopis (bei den Jüngeren) leicht feuchtleuchtenden Augen der vorabendlicherwartungsvollsitzenden, in Joggingklamotten gekleideten Fäns der Seifenindustrie breitet sich auf dem Flachbildschirm – ungefähr ein Drittel so breit wie Tante Helene aus Gelsenkirchen oben- und mittendrumherum, aber so flach wie die Vorabendseifeerwartenden, über die die Privaten ihre Schirmherrschaft ausbreiten – der Vorspann zum Folgedrama auf dem Hausaltar aus.

mammababbadaddaballaballa, was die flachbildigen Seifenfäns als Musik interpretieren.

Stimme aus dem Off: „Wir befinden uns, eingebettet in die liebliche Landschaft, in einer glücklichen Vorortreiheneigenheimzersiedlung am Rande des östlichen Ruhrgebietes, das dort – wie in anderen Bereichen auch – zu Ende geht. Unser Horizont ist begrenzt. Von den museumsreifen Fördertürmen unserer deutschen Steinkohle, den rauchenden Schloten unserer einzigartigen Industrielandschaft und den qualmenden Kühltürmen unserer Kokereien und Kraftwerke und so. Unsere Seelen sind gefüllt von ländlichen Heimatgefühlen. Seht doch nur“, der Vorspanntrailer bebildert das sehr einfühlend, „wie der freundliche Nachbar, mit einer bauchverdeckenden, grünen Gärtnerschürze ummantelt, mit einer Nagelschere seinen Rasen an der Entfaltung hindert, keinem Grashalm die Chance zum Sprießen lässt, damit er nicht auf den dummen Gedanken kommt, unter dem xylamonisierten Jägerzaun hindurch zum Vorortreiheneigenheimzersiedlungshäuschen hinüber zu wuchern. Vollziehen Sie das glückliche Lächeln des freundlichen Nachbarn jenseits des xylamonierten Jägerzaunes mit, da es ihm gelingt, mit einer einfachen Nagelschere die nachbarschaftlichen Beschwerden über menschenunwürdige Gartengestaltungs- und behandlungshandhabung ohne jahrelange Prozesse (obwohl auch er eine Rechtsschutzversicherung hat) unter Kontrolle zu bringen. In ‚coole Seifen – schlechte Seifen’ kommt es nicht zu fernsehuntauglichen menschlichen Problemen. Wir sind doch eine glückliche, fernsehtaugliche Menschenfamilie, die sich über die Vorortreiheneigenheimzersiedlungen in diesem unserem Land verteilt.“

Der Vorspanntrailer blendet professionellgekonnt zu einem der mehreren Hundchen, die in unserem idyllischmustergültigen Vorortreiheneigenheimzersiedlungshäuschen den natürlichen Mittelpunkt des Familiengeschehens darstellen, über. Das Hundchen hat soeben einen ordentlichen Kack – „och wie süss!“ – unter der Kirschlorbeerhecke an der Grenze kurz vor dem xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn in seiner grünen, bauchverdeckenden Gärtnerschürze abgelegt, schon eilt er behände zu einem der anwesenden Frauchen in der musterhaftglücklichen Einheitsfamilie, wird wegen seines braven Ausschisses zuerst gelobt, dann gestreichelt und gekrault. Was das Hundchen zum Anlass nimmt, mit dem Schwanz zu wedeln.

Stimme aus dem Off: „Welches Drama spielte sich in der Kulisse in der 1794. Folge in Wirklichkeit ab?“

Der Vorspanntrailer blendet zu den Mülltrenntonnenboxen rechts zwischen Garage, bevor der xylamonierte Jägerzaun beginnt, wonach es zum Sauerland übergeht, über. Hinter den Mülltrenntonnenboxen wird ein Girlieplusboypärchen sichtbar, das sich sehr fröhlich gibt, während deren Lippen sich in der Weise zueinander bewegen, dass es zu einem Aufeinandertreffen dieser Körperteile käme, würde die Kamera nicht rechtzeitig in die tierärztliche Praxis von Dr. Springsamen schwenken, in der soeben eine sehr adrette – zwar leicht, doch noch vorabendserienkompatibel bekleidete – Assistentin den beschädigten Tierchen/Frauchen/Herrchen ihre individuelle Box zur nachfolgenden Behandlung zuweist. Ohne die sehr adrette Assistentin oder den Tierarzt Dr. Springsamen näher zu beleuchten, folgte an dieser Stelle eine Werbepause.


WAS BISHER GESCHAH

Was am gestrigen Vorabend des heutigen Vorabends geschah, erläutert der fröhlichen flachbildkompatiblen Glotzerfamilie nebst ihren Hundis, Katzis und dem Kanarienvogel Hansi die Stimme aus dem Off, damit die total begeisterten Fäns nicht orientierungs- und fassungslos am heutigen Vorabend in den Abend hineingeseift hindämmern.

Stimme aus dem Off: „Wie in allen bisherigen Folgen, so bildete auch in der 1794. das idyllische Reiheneigenheimzersiedlungshäuschen mit dem xylamonierten Jägerzaun, eingebettet in die liebreizende Landschaft des östlichen Ruhrgebietes, das dort zu Ende und in das Sauerland übergeht, die beschaulichtraute Kulisse. Immer noch ist unser Horizont begrenzt von den museumsreifen Fördertürmen unserer deutschen Steinkohle, den rauchenden Schloten unserer einzigartigen Industrielandschaft und den qualmenden Kühltürmen unserer Kokereien und Kraftwerke.“

Die Stimme aus dem Off ist getragen-heiter-sympathisch, ähnlich jener tonalen Begleiterscheinung eines Tierfilms „Exoten der Erde“ bei arte. Der duddeldaddelnde Musikuntergrund durchwebt andrérieuxhaft die Szene.

Großmutter Hilde

Stimme aus dem Off: „Die 1794. Folge unserer vorabendlichen Seifenstücke zeigt Großmutter Hilde, wie sie von der 83. ruhe- und rastlosen Suche nach ihrem schon lange zurückliegenden ersten Liebhaber, der seit der Schlacht von Verdun amtlich als „vermisst“ geführt wird, was Großmutter Hilde ebenso empfindet, erneut erfolglos in die traute Familienidylle zurückkehrt. Das macht sie sehr traurig, aber sie weint noch nicht. Damit beginnt sie erst, als ihr Katzilein ihre Dritten in seine Gewalt bringt und sie durch den xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn mit der bauchverdeckenden grünen Gärtnerschürze hinüberträgt, und vor dem in Betrieb befindlichen Rasenmäher ablegt. Von diesem beweglichen Geschehen lässt sich Großmutter Hilde nicht entmutigen. Sie wird in der heutigen 1795. Folge erneut aufbrechen, um ihre längst zu Ende gekommene Vergangenheit zu finden. Sie streichelt und krault ihr Hundilein, welches daraufhin mit seinem Schwanz wedelt, was Großmutter Hilde etwas Tröstliches ist.

Dann folgte eine Werbepause.“

Mutter Elisabeth

Nachdem das zigeunerbaronartige Musikintermezzo kurz stärker zu Gehör gebracht wurde, meldet sich wieder die Stimme aus dem Off:

„Auch in der 1794. Folge war Mutter Elisabeth in ununterbrochener Folge damit beschäftigt, einen Erfolg zu erleben. Sie hat sich in den quälend langen Jahren seit der 1. Folge kein bisschen verändert, weil ihr mehrere Liftaufenthalte und 5 Botoxspritzenanwendungen jene gefestigte Persönlichkeitsgestalt vermittelt haben, die heute noch ihr blendendes Erscheinungsbild als deutsche Zahnarztfrau prägt. Ihr kunststoffchemikalisiertstabilisierter Zustand wird noch mindestens 645 Folgen überstehen. Nachdem sie in den früheren Folgen wechselnd einen Friseur, einen Mann und einen angehenden Erfolgspolitiker in die traute Reiheneigenheimfamilienidylle eingeführt hat, hat sie diesmal einen Porsche mit Frauenarzt im Begleitgepäck. Sie ist sehr glücklich. Im Verlaufe des familienumfassenden Kaffeetrinkensundkuchenessens fasst sie den Entschluss, ihren schon seit 2 Tagen bestehenden Entschluss in die Tat umzusetzen: im Anschluss an den jugendfreien Vorabendseifenabend will sie mit ihrem ihr auch außerdienstlich zu Dienstleistungen bereiten Frauenarzt jugendgefährdende Handlungen unternehmen. Versonnen streichelt sie ihr Hundilein und krault ihm das Fell, was dieser zum Anlass nimmt, mit seinem Schwanz zu wedeln.

Es folgte eine Werbepause.“

Tochter Anna-Laura

Die kurz aufgedrehte Tonbeschallung ist nun wieder ganz andrérieuxartig, ausuferndes Largo mit dahinschmelzenden Glissandi und frühlingsfühligem Vibrato.

Stimme aus dem Off: „Anna-Laura verübt hinter den Mülltrenntonnenboxen zwischen Garage und voll erblühtem Fliederbusch, welcher seinerseits an den xylamonierten Jägerzaun zum freundlichen Nachbarn mit bauchverdeckender grüner Gärtnerschürze angrenzt, schüchternsuchend, wie es dem mittleren Aknealter, in der noch nicht oft Gelegenheit zur übenden Praxis war, gut zu Gesicht steht, erste Annäherungsversuche an ihren ersten Freund Udo. Der Fliederbusch verströmt sich betörend. Dieses Geschehen lässt auf aufkeimende Liebesgefühle, wie sie bei der unbeschwerten Jugend häufig in der Taschentuchliteratur geschildert sind, schließen. Als bei ihrem körpersprachlichen Annäherungsvorgehen ihr fein- und zartgliedriges Händchen streichelnde Bewegungen ausführt, entdeckt sie, dass Udo schwul ist. Daraufhin führt Anna-Laura mit Udo ein einfühlendverstehendes Betroffenheitsgespräch, gegen dessen Ende Udo seine kulturelle Identität findet. Beide beschließen gute Freunde zu bleiben und sich der Familie zu offenbaren. Sie kehren auf die Terrasse zum familienfreundlichen Kaffeetrinkenundkuchenessen zurück. Anna-Laura krault das Fell des Hundileins von Großmutter Hilde und streichelt ihn, was der treuherzig Blickende zum Anlass nimmt, mit dem Schwanz zu wedeln. Wauwaus sind für Kraulen und Streicheln immer dankbar. Anna-Laura findet das megacool und irgendwie tröstlich.

Dann folgte eine Werbepause.“


1795. FOLGE

Drei wirkungsmächtige Schlussakkorde, die sich an ‚Zarathustra’ erinnern. Kurze Stille.

Stimme aus dem Off: „Liebe Fäns von ‚coole Seife – schlechte Seife’, Sie sind jetzt echt gespannt, was in der heutigen 1795. Folge geschieht. Gleich nach der Werbung geschieht dasselbe wie in den 1794 Folgen zuvor. Bleiben Sie dran.“
"Wahre Satire verletzt nicht - sie tötet."
Lec
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