Ein Brief an einen Freund




Belletristik und Lyrik aller Art

Ein Brief an einen Freund

Beitragvon jupp » Mi 3. Sep 2014, 16:56

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BRIEF AN EINEN FREUND

Mein lieber, guter alter Freund, lieber Karl,
leider hat uns die Hektik des modernen Lebens, unter der wir alle leiden, vor einigen Jahren auseinander getrennt und unsere Lebensläufe zerrissen. Doch dieser Tage – als ich gerade wieder einen herben Aktienverlust hinnehmen musste – fiel mir wieder ein, dass es noch immer unsere gute alte Post gibt. Die hat jetzt zwar einen schicken, neudeutschen Namen, ist aber noch immer ganz die alte. So hoffe ich, dass dieser Brief Dich eines Tages erreichen wird.
Wie geht es Dir?
Es interessiert mich zutiefst, ob Du inzwischen mit einem Opfer der Globalisierung zusammen bist – Du hast ja schon immer von der Jugend Thailands geschwärmt – oder Dich immer noch mit der inzwischen gealterten (hoffentlich dennoch ansehbar) Hedwig (was haben wir uns damals in der Untersekunda um sie gestritten!) zufrieden gibst. Eure gemeinsamen Kinder werden inzwischen groß sein, Euch nicht mehr auf der Tasche liegen und Euch nur noch Freude bereiten. Hast Du inzwischen neue?
Was mich betrifft, so habe ich neuerdings nach einem Wochenend-Ermutigungs-Workshop für Senilioren die Lyrik als meine eigentliche Glücksbestimmung entdeckt. Nachdem mich inzwischen meine Frau Jessica (weißt Du noch, in der Obersekunda haben wir uns intensiv über ihre Vorzüge und Nachteile auseinandergesetzt!) nicht mehr so arg herausfordert, aber mich immer noch sehr liebt, kann ich mich voll auf meine Glücksbestimmung konzentrieren. Wenn Du mein neuestes Werk, das ich als Anlage beifüge, in Ruhe genießt, wirst Du meinem neuen Lebensinhalt Deinen Respekt nicht versagen können. Zutiefst erschüttert wirst Du Dich wohl fragen: „Muss das denn sein?“
Als meine Frau Jessica das erschütternde Werk probelas, meinte sie: „da muss Dir etwas Unverdautes aus dem Unterbewusstsein hochgekommen sein.“ Nachdenklich antwortete ich ihr aus dem Hausschatz des Lyrikers:
„Meine Träume verwildern
und aus allen Bildern
steigen Engel mir nach.“
Darauf brachte mir meine Jessica ohne weiteren Kommentar einen sehr trockenen Gutedel. So ist sie gereift:. Klug durch Lebenserfahrung. Nicht mehr ganz so religiös bekloppt wie früher.
Es stimmt also doch, Frauen verstehen die geheimen Wünsche der Männer, aber nichts von meiner Lyrik.
Lieber guter alter Freund Karl, wie siehst Du die Sache?

Grüße auch Hedwig, sofern sie sich noch in Deiner Nähe befindet, sonst an Unbekannt
Jupp
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Lec
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